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Fernsehen: Julia haut ab

Die Pubertät der Tochter stellt im ARD-Film „Verlassen“ vieles infrage. Sogar die Trennung der Eltern.

Aufmüpfige, unglückliche Teenager, vornehmlich weibliche, hat uns das deutsche Fernsehen in seinen Dramoletten während der vergangenen Jahre überreichlich präsentiert. Die jungen Dinger waren in ihrer Widerborstigkeit, ihrer Wut und ihrer Neigung zum Kraftausdruck der gesammelte Einspruch gegen die Lebensweise der Elterngeneration. Dieser Einspruch aber verpuffte jedes Mal, weil es nicht gelang, ihn konkret zu begründen. Die Zuschauer mussten sich damit abfinden, dass in den Movies Mädchen ab dreizehn in ein pechschwarzes Stimmungstief absackten, aus dem sie mit knallenden Türen und saftigen Invektiven auf sich aufmerksam machten und aus dem weder gute Worte noch liebevolle Zuwendung sie zu erlösen vermochten. Pubertät als Verhängnis, Mädchensein als grausames Schicksal. So war es eben. Selbst intakte Familien mit ganz viel Liebe für den Nachwuchs produzierten mit Naturnotwendigkeit solche weiblichen Monster.

Der Film „Verlassen“ von Christoph Stark (Buch und Regie) macht vieles wieder gut. Hier mag man zuschauen, wenn Teenager Julia (Janina Stopper) ihre Eltern beschimpft, wenn sie mit zitternder Stimme die üblichen Vorwürfe („Ihr wollt mich doch gar nicht ...“, „Wollt ihr mir etwa sagen, wie man richtig lebt ...“) aneinanderreiht und schließlich von zu Hause abhaut. Denn der Film nimmt sich Zeit, die Warum-Frage erschöpfend zu klären. Ja, diese Klärung ist sein Sinn und Ziel. Und es gelingt ihm wunderbar. All die lediglich um des Effektes willen zornentbrannt herumtobenden TV-Töchter der Vergangenheit werden durch „Verlassen“ sozusagen im Nachhinein salviert.

Vor fünf Jahren haben sich Julias Eltern Dieter (Harald Krassnitzer) und Claudia (Martina Gedeck) getrennt. Beide haben neue Partner gefunden. Das Kind lebt bei der Mutter, besucht aber auch oft seinen Vater. Jetzt will Claudia wieder heiraten und dafür von München nach Berlin ziehen. Julia soll mit. Sie will aber nicht. Dieter soll’s der Mutter beibringen. Der mag erst nicht: „Wenn ich mit ihr reden könnte, wären wir nicht getrennt.“ Dann versucht er es doch. Sofort gibt es Streit. Dieter und Claudia schreien sich an. Julia türmt. Sie hat genug. Und man kann sie – endlich mal – verstehen.

Im idyllischen italienischen Portovenere treffen sich alle wieder. Die Tochter ist – in Mutters Wagen, ohne Führerschein – dorthin gebraust, die Mutter per Flieger hinterher, der Vater findet sich auch ein, und schließlich kommt noch seine neue Frau Eva (Marion Mitterhammer) mit dem Opa hinzu. Die hübsche Wirtin, in deren Pension alle absteigen, ist eine alte Freundin Claudias, und Dieter hatte mal was mit ihr. So ist das Tor zur Vergangenheit weit aufgetan. Dieter, als Sehnsuchtsziel der Frauenwelt (Claudia, Eva, Julia, Wirtin), rückt automatisch in den Mittelpunkt des Films, er trägt die Handlung, seine Lakonie, seine Hilflosigkeit, seine Hartnäckigkeit, sein Zartgefühl dominieren die Szenen. Dem Österreicher Harald Krassnitzer, augenscheinlich ein Naturtalent von großer Ruhe und schönem Temperament, gelingt ein Kabinettstück.

Aber es geht ja – auch ihm – um Julia. In Portovenere stellen sich die Zusammenhänge her, löst sich das Rätsel von des Mädchens Verzweiflung. Es ist nicht nur die Trennung der Eltern, die am Ort des alten Glücks plötzlich infrage steht, es sind noch weit ältere Dramen, die hier weiter- und mitgewirkt haben. Und so ist es gut, dass der Großvater vor Ort ist, denn er, der – ähnlich wie sein Sohn Dieter – das Schweigen mehr liebte, als ihm und den Seinen gut tat, muss jetzt doch reden und das Seine dazutun, damit die Dinge sich klären und Altlasten des Schicksals von den Schultern der Lebenden fallen können.

Gegen Ende suchen alle, einschließlich der Polizei von Portovenere, an der Küste nach der verschwundenen Julia. Die Klippen sind steil, das Meer ist tief, und das Kind, das nicht schwimmen kann, hatte sein Leben satt. Man fragt sich als Zuschauer: Wie soll das ausgehen? Gibt es einen überzeugenden und womöglich überraschenden Schluss, der nicht allzu schrecklich oder allzu versöhnlich wäre? Es gibt ihn, und Autor/Regisseur Christoph Stark hat ihn gefunden.

„Verlassen“, ARD, 20 Uhr 15

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