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Stück Himmel

© Arte

Fernsehfilm: So schwerelos

Zwei ungleiche Brüder und eine Reise nach München: Der Film „Das letzte Stück Himmel“ von Jo Baier ist eine Dreiecksgeschichte der tief bewegenden Art.

Wie wird man so? Schwermütig, sagte man einst, depressiv heißt es heute. Und wo man einstmals sagte: Er ist ein Selbstmordkandidat, heißt es heute lateinisch korrekt: Er ist suicidal. Wie wird man so? Wie gelangt jemand da rauf auf die Brücke, bereit zu springen, weil für ihn das Leben und die Welt ohne Sinn und ohne Wert sind? Der Film „Das letzte Stück Himmel“ legt eine Antwort nahe: Es gab eine Mutter, die zu früh starb, und einen Vater, der zu streng war. Aber da stimmt was nicht mit der Antwort. Denn Julian, der junge Mann, der springen will (Max von Pufendorf) hat einen Bruder, der ja auch die Mutter verlor und einen harten Vater hatte, und dieser Bruder, Anno mit Namen (David Rott), ist ein fröhlicher Geselle, robust und erfolgreich, ganz die Kontrastfigur zu dem Unglückswurm Julian.

Zwar wuchs Anno bei Verwandten auf, aber die Verluste und Bürden seiner Kindheit müssen denen Julians doch ähnlich gewesen sein. Also heißt die Antwort auf die Warum-Frage letztlich: Man weiß es nicht. Man weiß nicht, warum der eine psychotisch und suicidal wird und der andere nicht. Und das bedeutet: Man hat auch keine Therapie, die an die Wurzel geht und den verrückten Selbstmordkandidaten ein für alle Mal von der Brücke holt.

Mit dieser melancholischen Einsicht, dieser bedrückenden Ungewissheit müssen die Angehörigen des Kranken leben, auch die Zuschauer dieses Films. Aber es liegt nicht in Annos Natur, sich abzufinden. Also fährt er, als Julian ihn wieder mal von der Brücke aus anruft, hin zu seinem Bruder, setzt ihn in seinen Porsche und sagt zu ihm: „Wir fahren nach München.“ Dort seien die Mädchen so schön wie sonst nirgends auf der Welt, und sie alle warteten auf Julian. Der weiß ja, dass sein Bruder gern mal einen Scherz macht und schüttelt den Kopf. Aber Anno hat gerade einer tollen jungen Frau mit Namen Laura (Nora Tschirner) bei einer Autopanne geholfen und sie ein Stück mitgenommen, und sie hat ihren Pass im Porsche verloren. Anno zeigt Julian das Foto, und der reagiert mit einem langen „Dies-Bildnis-ist-bezaubernd-schön“Blick. Er will Laura sehen. Er kommt mit nach München.

Auf zarte, neugierig und vorsichtig sich an die Figuren ranpirschende Art, wie man es von ihm kennt, inszeniert Jo Baier diese Dreiecksgeschichte. Und obwohl der Zuschauer von Anfang an weiß, dass der fast autistische Julian keine Chance bei der quirligen Laura haben wird, dass vielmehr der charmant-zupackende Anno genau der Richtige für sie ist, obwohl das Mädchen als weibliche Zentralfigur die Aufmerksamkeit automatisch auf sich zieht, bleibt doch Julian die Hauptperson. Das haben Regie und Buch (mit Jo Baier: Michael Watzke) wunderbar austariert. Es ist ein Ausbruch, den die drei sich leisten, ein Aufbruch, ein Ausflug, ein Spiel, ein Versuch – und immer bleibt Julian im Mittelpunkt. Die Reise findet ja auch nicht ohne therapeutische Hintergedanken statt, denn Anno wünscht sich so sehr, dass Julian das Leben lieben lernt. Und der probiert es. Er leckt sozusagen am Leben und zeigt, dass es ihm schmeckt. Als Anno mit ihm im Segelflugzeug über die Alpen fliegt, seufzt er: „Können wir nicht einfach in der Luft bleiben, so schwerelos?“ Das ist ein Schlüsselsatz. Könnten sie, so brauchte Julian seine Erdenschwere nicht auf andere Weise abzuschütteln. Aber sie müssen landen. Und dabei geht es nicht ohne Verletzungen ab – im direkten und im übertragenen Sinn.

Zwischendurch meldet sich mal die Vernunft in Gestalt des Vaters und ärztlicher Ratschläge: Der Junge braucht seine Medikamente und die Psychiatrie, fertig. Aber die Brüder sehen das anders. Was Julian braucht, ist die Schwerelosigkeit – über den Wolken und beim Anblick Lauras. Auch wenn darauf die Landung folgt und die Schmerzen des Bodens ihn wieder zurückführen werden zur Brücke.

„Das letzte Stück Himmel“, Arte, Freitag, 20 Uhr 40

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