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Kampfgemeinschaft: Harry Wörz (Rüdiger Klink, re.) mit Anwalt Hubert Gorka (Felix Klare).

© SWR/UFA FICTION/Grischa Schmitz

Film: Der Fall Harry Wörz als TV-Justizdrama

Der Film „Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“ ist ein Triumph der Authentizität. Nicht die Story vom großen Advokaten, der aus Edelmut einer armen Sau zu ihrem Recht verhilft.

Der berühmte „Kleine Mann“, den Skeptiker mit dem Vornamen „der sogenannte“ getauft haben, ist die am meisten missbrauchte Figur im Fernsehen. Der TV-Boulevard projiziert in den Fallada-Helden („Kleiner Mann – was nun?“) seine eigene Schmierigkeit: Proletenkarikaturen pöbeln vor den Richtertischen von Sat-1-Robenträgern wie Barbara Salesch und Alexander Hold. Die Kamera zeigt den Unterschichtler ungeniert und geil mit schlechten Zähnen, geschmackloser Kleidung und fataler Figur.

Der „Kleine Mann“ gilt auch meist als zu klein für den großmäuligen Talk. Da darf er nur als Objekt vorkommen, als pathologischer Fußballfan zum Beispiel, als Hartz-IV-Made oder ewiges Sorgenkind. Das Medium verweigert ihm eigenes Gewicht, eigene Entwicklung und eigene Würde. Es nimmt seinen Dialekt nicht ernst, es kann wenig anfangen mit der uneleganten Sprache, in der das einfache Volk die Welt zu begreifen versucht.

Schon deshalb ist „Der Fall Harry Wörz“ von Till Endemann und Co-Autor Holger Joos viel mehr als ein Justizdrama. Die faktenstrenge Rekonstruktion von 13 Jahren Kampf eines geschiedenen, nach Fingeramputation umgeschulten Bauzeichners aus Gräfenhausen bei Pforzheim gegen die Verfolgung durch einen voreingenommenen Polizei- und Justizapparat ist – darf man das heute noch sagen? – ein großartiger wundenreicher proletarischer Bildungsroman.

Da befreit sich nicht bloß einer aus den Fängen der Ungerechtigkeit, da kommt einer zu sich selbst. Hinter den vielen gezeigten Gerichtsszenen, den Winkelzügen der Polizei, den Bildern vom Tatort, dem Können eines Anwalts (Felix Klare) wird ein Denkmal für die Tapferkeit eines Kleinen und doch ganz Großen enthüllt – mit allem, was dazugehört: mit Zeit für innere Entwicklung, mit Zeit für Gefühl, mit Zeit für Zorn und Tränen und mit dem richtigen Maß für Pathos, ohne das kein guter Fernsehfilm leben kann.

Harry Wörz war es nicht

Hier ist kein Platz, das grausame Ping-Pong-Spiel zwischen den Gerichtsinstanzen nachzuerzählen, diese Kette aus Urteilen, Berufungen und Revisionen. Auch nicht durch die Rätsel zu führen, die der Fall auftürmt: Wer hat 1997 Wörz’ Ex-Frau, die Polizistin Andrea, mit dem Schal so stranguliert, dass sie einen unheilbaren Hirnschaden erlitt? Der Film tut das verständlich und gekonnt und weiß am Ende nur eines sicher: Harry war es nicht.

Das ARD-Movie aus dem Stall, der früher Teamworx hieß und heute als Ufa Fiction firmiert, schildert, wie der von Klare glänzend gespielte Anwalt Hubert Gorka von dem Fall gefesselt wird und wie zwischen Mandant und Rechtsvertreter eine Art gleichberechtigte Kampfgemeinschaft wird. Das Drama meidet die übliche Story vom großartigen Advokaten, der aus Edelmut einer armen Sau zu ihrem Recht verhilft.

Dieser Harry wächst und wächr Harry wächst und wächst im Auge und im Herz des Zuschauers. Die Szenen von der tragischen Liebe zu seinem Sohn, den nach der Tat die zornigen Schwiegereltern vom leiblichen Vater trennen, sind schlichtweg rührend. Aus dem am Anfang von der Polizei überrumpelten Harry wird in der Haft ein hartnäckiger Kämpfer, einer, der sich in die Akten frisst. Der nicht wie Michael Kohlhaas in den Wahn ausbricht, der keine soziale Klageleier anstimmt, der nicht in Depression verfällt, obwohl er noch heute, nach seinem juristischen Sieg, psychisch angeschlagen und arbeitsunfähig ist.

All das wäre so überzeugend nicht herübergekommen, wenn nicht der 1971 geborene Schauspieler Rüdiger Klink diesem Harry eine Gestalt gegeben hätte. Er drängt uns seine kurpfälzische Mundart auf, er zwingt uns, mit seinem erstaunten Blick auf den juristischen Wahnsinn zu blicken, er zügelt unsere dramatischen Erwartungen, und er zwingt uns mit seinem bescheidenen Spiel, den Kampf gegen die Verlorenheit eines kleinen großen Helden zu entdecken.

In einem ergreifenden Schlusswort nach dem letzten seiner Gerichtsauftritte, bringt Harry Wörz sein Schicksal, diesen Kampf gegen eine irrende Justiz, auf den Begriff: „Es wird Zeit, dass die mal zuhöret.“

„Unter Anklage: Der Fall Harry Wörz“, ARD, Mittwoch, 20 Uhr 15

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