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Die Flüchtlingskrise produziert Bilder von großer Intensität. Es sind zu viele, um jedes erinnern zu können. Das des toten syrischen Jungen Ailan Kurdi, anspült an einem türkischen Strand, wird in Erinnerung bleiben. Aber dieses? Es zeigt ein Flüchtlingsmädchen, aufgenommen in der Nähe von Gevgelija in Mazedonien auf der sogenannten "Balkanroute". In den sozialen Netzwerken werden diese Bilder aber oft wahllos und aus dem Kontext gerissen in die Timelines gespült.

© Nake Batev/dpa

Flüchtlinge: Die Flut der Bilder überfordert uns

Das Netz spült uns jeden Tag Gewalt ins Bewusstsein. Stumpfen wir ab – oder werden wir sensibler? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Anna Sauerbrey

Ich möchte das Bild nicht mehr sehen. Es zerreißt mir das Herz, jedes Mal. Doch das tote Kind am Strand wird mir beinahe täglich hingeworfen, von den Algorithmen, die meine Timeline steuern. Es wird immer neu angespült an den Strand meines Bewusstseins, es durchbricht immer wieder das endlose Gebrabbel der sozialen Medien mit seiner Stille.

Das Bild des toten syrischen Kleinkindes an einem türkischen Strand ist nicht das einzige, dem ich nicht entkommen kann. Ein kleiner Ausschnitt aus den Strom der vergangenen Wochen: Anfang August veröffentlichte die „Daily Mail“ ein Video, das zeigt, wie ein Polizist einen unbewaffneten Mann in North Carolina erschießt. Das passierte 2013. Im Zuge des Prozesses wurde das Video öffentlich. Menschen, mit denen ich vernetzt bin, teilten es als Beleg für amerikanische Polizeigewalt gegen Schwarze. Auf der Suche nach Informationen über einen Interviewpartner stieß ich kurz darauf auf das öffentliche Facebook-Profil eines zufällig gleichnamigen Mannes, offenbar eines Soldaten, der Bilder teilte, die „Kameraden“ in Afghanistan gemacht hatten. Die Bilder zeigten bei Anschlägen schwer verletzte Kinder: Ob sie echt waren, weiß ich nicht; sie dienten ihm als Beleg für die Unmenschlichkeit des Islam.

Wieder etwas später veröffentlichte die „Bild“-Zeitung“ ein Foto jenes Lastwagens, der an der A4 gefunden wurde, tote Flüchtlinge, in bizarren Posen übereinander gesunken. Gerade noch verhindern konnte ich, zu sehen, wie die US-Journalistin Alison Parker während eines Interviews erschossen wurde – aber auch dieses Video war nur einen Klick entfernt.

Der Strom der Bilder hat sich seit 9/11 potenziert

In ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“, in dem sie sich mit der Wirkung von Kriegsfotografien auseinandersetzt, schreibt Susan Sontag: „Sehen geschieht ohne Anstrengung, Sehen erfordert räumliche Distanz, Sehen kann man abstellen (wir haben Augenlider, aber keine Türen an unseren Ohren).“ Seit Susan Sontag ihren Essay veröffentlicht hat – im Jahr 2003, unter dem Eindruck der Bilderflut vom 11. September – hat sich der Strom der Bilder potenziert. Und so sehr Sontags Gedanken noch immer Gültigkeit haben: Sehen geschieht nicht nur ohne Anstrengung. Unsere Autorität über das, was wir sehen, hat sich völlig verflüchtigt. Es gibt keine räumliche Distanz: Die Bilder drängen in unsere Facebook-Wohnzimmer. Wir können sie nicht abstellen: Sie rennen einfach los. Wir haben keine Augenlider mehr: Wir müssen sehen.

Umso bedeutender wird die Frage, die Sontag in ihrem Essay stellt. Was macht die Bilderflut mit uns? Werden wir hypersensibel? Oder stumpfen wir ab?

Eine mögliche Funktion der Kamera, schreibt Sontag, ist es, „to uglify“, die Dinge noch hässlicher erscheinen zu lassen. Schreckliche, erschreckende Bilder sind „didaktisch“, sie fordern aktives Handeln. Die Kriegsfotografie ist seit jeher angetrieben von diesem Glauben, Bilder könnten Krieg verringern, Unrecht beseitigen; das Herz könne Rückmeldung geben an den Kopf. Susan Sontag stellt diese These infrage, verwirft sie aber nicht völlig. Abstumpfung ist möglich, sagt sie, aber kein Automatismus. Sensibilisierung ist denkbar.

Es entsteht eine nicht zielgerichtete Empörung

Die Wirkung der Bilder auf das Handeln wird durch das Internet geschwächt. Den Kopf erreichen sie nur, wenn ihre Bedeutung ersichtlich ist, doch das ist immer seltener der Fall. In den Timelines erscheinen sie wahllos und aus dem Kontext gerissen. Die Autorenschaft ist häufig unklar, die Möglichkeiten digitaler Manipulation schüren das Misstrauen gegenüber der Wahrhaftigkeit des Gesehenen.

Auch die Verursacher des Elends der vielen großen und kleinen Menschheitskatastrophen, die täglich auf unsere diversen „Screens“ drängen, sind kaum greifbar. Was ist die Ursache für den Tod des Ailan Kurdi, des toten Jungen am Strand? Das Zerfallen der Regime des Nahen Ostens? Das Machtvakuum, in dem sich der IS ausbreitete, und das der Westen zuließ? Die Grausamkeit der Schlepper? Die europäische Einwanderungsgesetzgebung?

Ohne Kontext aber entsteht durch die Flut der Bilder nicht zielgerichtete Empörung, sondern ziellose emotionale Erregung, ein vages Gefühl, dass „die Welt“ krank ist, eine große Hilflosigkeit und Überforderung.

Vielleicht ist das eine Erklärung für die große Hilfsbereitschaft der Deutschen. Man könnte sie lesen als eine Art Traumaverarbeitung, als die Möglichkeit dem Strom der Bilder endlich etwas entgegenzusetzen. Das Elend war bisher nur medial erfahrbar, das Mitgefühl, das sie erregten, schmeckte schal und billig. Jetzt sind sie da, die Subjekte der Bilder.

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