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Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

© IMAGO

Fotos und Selfies in Gedenkstätten: Hashtag aus der Hölle

Es gibt Selfies vor dem Eiffelturm, vor dem Kolosseum – und im KZ Auschwitz. Das Social-Media-Phänomen macht vor nichts und niemandem halt. Erst recht nicht vor der Moral.

Sofyytta trägt hellblaue, zu enge Jeans; bauchfreies, weißes Shirt, Pferdeschwanz und bunte Armreifen. So posiert sie auf stillgelegten Bahngleisen, so steht sie unter einem geschmiedeten Tor. Beide Male lächelnd. Logisch. Typische Teenager-Fotos auf Instagram, verlinkt mit Schlagworten wie #happy, #nice oder #cute. Es gibt nur ein Problem: Die Bahngleise führen ins ehemalige Vernichtungslager Auschwitz. Über dem geschmiedeten Tor steht „Arbeit macht frei“.

Ausgelöst wurde die Selfie-Diskussion von einer Prinzessin: "Princess Breanna"

Fotos oder sogar Selfies aus Auschwitz und anderen Gedenkstätten gibt es schon lange. Vermutlich, seitdem die ersten Besucher mit Fotoapparaten diese Orte betreten haben. Erst vor kurzem wurden die Bilder zum bewussten Problem. Schuld daran war eine Prinzessin, „Princess Breanna“, um genau zu sein. Das Mädchen aus Alabama hatte unter ihrem adligen Synonym ein Selfie von sich aus Auschwitz über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet. Einen Monat lang blieb das Bild unkommentiert, dann brach der Shitstorm los: Das Foto wurde zeitweise als „schlimmstes Selfie aller Zeiten“ bezeichnet. Breanna wurde nicht nur beschimpft, sie bekam sogar Todesdrohungen.

Seitdem kontrollieren Angestellte von KZ-Gedenkstätten und anderen Erinnerungsorten Internetportale nach Fotos, die auf ihren Geländen entstanden sind. Was sie dort finden, macht sie manchmal sprachlos. Oft wütend. Immer: ratlos. Zum Beispiel, wenn feixende Halbstarke vor den Gaskammern posieren. Wenn Fotos mit #lookinghotinauschwitz verlinkt sind. Oder Besucher wie Sofyytta ein Denkmal dazu nutzen, ihre neue Garderobe optimal zu präsentieren. Dagegen tun können die Angestellten allerdings nichts. Gedenkstätten und Denkmäler gehören zum öffentlichen Raum, in dem Fotografieren erlaubt ist. Welche Qualität das Bild letztlich hat, wer oder was darauf zu sehen ist, ist dem Fotografen überlassen.

"Wer wann mit welchem Gesicht in die Kamera schaut": Nicht überprüfbar

Auch wenn Fotos und Selfies aus Auschwitz im Netz am weitesten verbreitet sind, hat mittlerweile jeder Erinnerungsort dieselben Probleme. „Fotografiert wird immer“, sagt Andrea Riedle, die die wissenschaftliche Abteilung der KZ–Gedenkstätte Dachau in Bayern leitet, dem ersten Konzentrationslager, das überhaupt von den Nazis errichtet wurde – im März 1933. Riedle sagt: „Ein Foto oder Selfie ist in Sekunden gemacht. Bei 800 000 Besuchern jährlich können wir nicht aufpassen, wann wer mit welchem Gesicht in eine Kamera schaut.“ Von Dachau, sagt Riedle, hätten ihre Mitarbeiter bisher nur ein einziges Selfie im Internet gefunden. Ein guter Schnitt im Vergleich zu den hunderten, die es aus Auschwitz gibt. Allerdings ist diese Ruhe vielleicht trügerisch: „Wir sind ja auch nicht auf allen Foren“, sagt Riedle. Es klingt ein bisschen hilflos. Dann sagt sie: „Manche Leute beschäftigen sich gar nicht damit, wo sie da sind“.

Selfies von Beerdigungen wurden auf einem Blog gesammelt: "Selfiesatfunerals"

Warum man ein Selfie oder ein anderes Posing-Bild in einer Gedenkstätte wie einem ehemaligen KZ macht, kann unterschiedliche Gründe haben. Es gibt Besucher, die dabei ernste Gesichter zeigen und in sozialen Netzwerken auch per Bildunterzeile klarmachen, dass sie sich mit der Geschichte des Orts auseinandersetzen. Und es gibt die vermeintlichen Spaßvögel. Hier gelte es, abzuwägen, sagt Professor Alexander Filipovic von der Hochschule für Philosophie in München. Er forscht dort zur Ethik der digitalen Öffentlichkeit sowie zu ethischen Herausforderungen sozialer Netzwerke. Obwohl er glaubt, Differenzierung sei notwendig, sagt er auch: „Selfies drängen das Selbst in den Vordergrund. Alles andere gerät in den Hintergrund, so zum Beispiel auch das Leid der Gefangenen und Ermordeten. Weil wir das nicht wollen, interpretieren wir die Selfies als Respektlosigkeit – obwohl das im Einzelfall vielleicht gar nicht so gemeint war“. Stattdessen, so Filipovic, sei das dauernde Fotografieren und Selfie-Machen mittlerweile ein normaler Teil des sozialen Lebens, vor allem von jungen Menschen. „Man will zeigen, wo man ist, was man da macht und wie man aussieht, während man das macht. Früher hat man an den besuchten Ort ’Ich war hier’ eingeritzt. Das Selfie ist die moderne, mediatisierte Form dieser Schnitzereien“. Dementsprechend gibt es Fotos und Selfies vor dem Eiffelturm, vor dem Kolosseum – und vor Auschwitz. Selfies und Posing-Bilder von Beerdigungen, ebenfalls nicht sehr geschmackvoll, wurden eine Zeit lang sogar auf dem tumblr „selfiesatfunerals“ gesammelt. Der Blog wurde geschlossen, nachdem sogar US-Präsident Barack Obama ein Beerdigungs-Selfie gemacht hatte: Bei der Bestattung von Nelson Mandela. Selfies, so scheint es, machen vor nichts und niemandem halt: nicht vor dem Tod. Nicht vor ranghohen Politikern. Erst recht nicht vor abstrakten Begriffen wie „Anstand“ oder „Moral“. Bei einer Demo gegen Judenhass am Brandenburger Tor drängten sich kürzlich Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Familienministerin Manuela Schwesig und Moderator Cherno Jobatey auf ein Selfie, was ebenfalls kritisiert wurde.

Die Bilder sind juristisch legal. Moralisch sind sie grenzwertig

Auch die sozialen Netzwerke, über die die Bilder verbreitet werden, können kaum in die Pflicht genommen werden. „Ein Selfie vor den Gefangenenbaracken in Auschwitz mag geschmacklos wirken. Eine moralische Pflicht zum Entfernen gibt es für die Netzwerkbetreiber aber nicht“, sagt Filipovic. Twitter, Facebook und Tumblr haben vom moralischen Standpunkt her also weiße Westen. Stattdessen sei die Moral des Individuums gefordert, so Filipovic. „Es ist zu hoffen, dass die Einzelnen lernen, sich in solchen Fällen sensibel zu verhalten“.

Mehr als diese Hoffnung bleibt kaum. Denn juristisch gesehen sind die Fotos unbedenklich. Sie verstoßen erst gegen das Gesetz, wenn sie einen eindeutig volksverhetzenden Hintergrund haben, etwa, weil die abgebildete Person den Hitlergruß zeigt: „Dann könnte man das Bild bei Facebook oder Instagram melden und entfernen lassen“, sagt Jenifer Stolz, Pressesprecherin der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das mussten die Angestellten des Berliner Holocaust-Mahnmals noch nie tun. Trotzdem sind sie nicht begeistert, wenn Besucher für Fotos einen Kopfstand im Denkmal machen. Oder eine asiatische Reisegruppe dort mit Stinkefingern posiert. Am meisten ärgert sich Stolz aber gar nicht über die Fotos selbst, sondern über die Hashtags darunter. „Die werden sehr unbedacht verwendet“, erklärt sie. „Ich sage nur: #yolocaust“. Stolz, selbst Instagram-Nutzerin, durchsucht den Bilderfeed ab und an nach Fotos und Selfies, die am Mahnmal aufgenommen wurden. „Da gibt es schon unterschiedliche Qualitäten. Aber es ist schlicht nicht möglich, das Internet zu kontrollieren“.

Das Netz, so unkontrollierbar es ist, kontrolliert sich mittlerweile selbst. Zumindest bei Bildern aus Gedenkstätten und Erinnerungsorten, auf denen sich Personen zu sehr in Szene setzen. Bleiben ernste Fotos meist unkommentiert, kassieren Selbstdarsteller die harsche Kritik der Netz-Community. Auch Sofyytta bekam für ihr Gleis-Posing aus Auschwitz verständnislose Kommentare: „Warum???“ oder „Wieso lachst du, du dumme Nuss?“ Andererseits tippten auch 38 Nutzer auf das Instagram-Herzchen. Ihr Bild unter der schmiedeeisernen Inschrift „Arbeit macht frei“ brachte immerhin noch 31 Herzchen. „Manche Nutzer löschen die Bilder wieder, wenn sich die Community zu sehr darüber aufregt“, sagt Jenifer Stolz. Sofyytta gehört nicht dazu. Die Herzchen wiegen schwerer.

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