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Medien: Fünf Stunden Rede, unfassbar

Eine Arte-Dokumentation zeigt eindrucksvoll, wie Chruschtschow mit Stalin abrechnete

„Wenn Leute verhaftet wurden, dann dachten wir, dass es Volksfeinde und Verräter gewesen sein mussten“, sagt ein älterer Herr, ein Russe, der die Massenverhaftungen unter Stalin miterlebt hat. Eine einfache Gleichung, typisch damals für das Vertrauen der Menschen zu ihrer kommunistischen Partei. Dass Stalin ein Verbrecher war, verantwortlich für den Tod von Millionen Menschen, das war für Sowjetbürger auch Jahre nach dessen Tod kaum denkbar. Erst 1956, vor fast genau 50 Jahren, wagte es Nikita Chruschtschow, die Massenmorde des Diktators anzuprangern. Jürgen und Daniel Ast erzählen in ihrer für Arte/RBB produzierten Dokumentation von einer der sensationellsten politischen Enthüllungen des letzten Jahrhunderts.

Fast drei Jahrzehnte beherrschte Stalin die Sowjetunion. 1922 wird er Generalsekretär der Kommunistischen Partei, baut seinen Machtapparat auf. In den zwanziger und dreißiger Jahren lässt er tausende Politiker verhaften und hinrichten. Ganze Volksgruppen werden in entlegene Gebiete deportiert, Millionen von Menschen wegen geringfügiger Vergehen in Arbeitslager gesperrt. Dieses Willkürsystem musste Stalins Nachfolger Chruschtschow aufbrechen, um der UdSSR Entwicklungschancen zu geben. Das Problem: Chruschtschow war Teil dieses Systems. Wie er die Herausforderung meisterte, Stalin anzuklagen, ohne den Parteiapparat und sich selbst für mitschuldig zu erklären, ist die Geschichte, die Jürgen und Daniel Ast auf spannende Weise ausbreiten. Historisches Filmmaterial entführt uns in die fünfziger Jahre. Zeitzeugen sprechen von der „Heldentat“, die Chruschtschow da vorhatte, gegen den Widerstand bedeutender Teile des Parteiapparats. Wir sehen Chruschtschow während seiner fünf Stunden dauernden „Geheimrede“ auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei, in der er mit Stalin abrechnete. Betroffene, erstarrte Gesichter sind die Reaktion auf das Unfassbare.

Als die Rede im Westen veröffentlicht wird, reagieren dort lebende Kommunisten merkwürdig verhalten. Die Kommunistische Partei Frankreichs distanziert sich zwar vom Stalin-Personenkult, bleibt sonst aber wortkarg. Man betont die großen Probleme, die die Sowjetunion zu bewältigen hatte – ein wirtschaftlich rückständiges Land, der Angriff von Nazi- Deutschland im Zweiten Weltkrieg. „Abrechnung mit Stalin“ geht zum Schluss auch ein auf die Aufstände in Polen und Ungarn im Herbst 1956. Hier schließt sich der Kreis: Chruschtschow, der als Reformer angetreten war, sieht sich gezwungen, Freiheitsbestrebungen in Nachbarländern zu unterdrücken. „Wir alle sind in gewisser Weise Stalinisten“, sagt er.

Vielleicht war Chruschtschow ein Stalinist, der in Grenzen lernfähig war. Auch er war, unter Stalin, für Verhaftungen verantwortlich, trug Mitschuld am Tod tausender Menschen. Die Autoren lassen daran keinen Zweifel. Was an „Abrechnung mit Stalin“ auffällt, ist der Umgang mit den Opfern der stalinistischen Politik. Da wird zwar vom Leid der Millionen gesprochen, wir sehen auch einige Bilder beispielsweise von leeren Gefängniszellen oder von Straflagern, doch nahe kommt uns jemand nur selten. Es gibt eine Ausnahme. Juri Fiedelholz war 19 Jahre alt, als er verhaftet wurde. 1948 wurde er zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt, weil er die Allwissenheit Stalins bezweifelt hatte. Nach der öffentlichen Abrechnung mit Stalin kam Fiedelholz frei. Es gibt ein Foto von Fiedelholz: Abgemagertes Gesicht, ein Todkranker, der erschöpft ein Lächeln versucht, denn das Bild soll für seine Freunde sein. Sonst ist viel von Tausenden und Millionen die Rede. Man wirft dem Fernsehen oft vor, zu personalisieren, den Überblick über den Einzelschicksalen zu verlieren. Hier wären ein paar mehr Geschichten von betroffenen Menschen durchaus sinnvoll gewesen. Denn auch im Einzelnen spiegelt sich, manchmal, das Ganze.

„Abrechnung mit Stalin“, Arte,

20 Uhr 40

Eckart Lottmann

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