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Tom Bissell

© Trisha Miller

Buchrezension: Bekenntnisse eines Spielejunkies

Kunst oder Stumpfsinn? Tom Bissell hat ein sehr persönliches und anregendes Buch über eines der größten Unterhaltungsgenres geschrieben: das Videospiel.

Vielleicht ist es eines der interessantesten Bücher, das bislang über Videospiele geschrieben wurde. Es ist unvollständig und von seltsamer Unentschlossenheit. Es zeigt nächtelange Exzesse vor dem Bildschirm, zählt die Stunden, die ein Spiel kosten kann. Von 80 ist die Rede, mal von 120, von ganzen Tagen hinter zugezogenen Jalousien. Das Leben eines Videospielers ist auch eines in freiwilliger Isolation. In Extra Lives gelingt dem amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Tom Bissell das unterhaltsame und kluge Porträt einer Spielerseele: seiner eigenen. Anzeige

Bissel ist 34 und unterrichtet kreatives Schreiben in Portland. Why Video Games Matter, heißt es im Untertitel zu diesen knapp 200 Seiten, die gerade auf Englisch erschienen sind. Bissell unternimmt darin nicht den Versuch einer Kulturgeschichte. Er lässt Pac Man und Super Mario nicht seitenlang herumevolutionieren, sondern kommt früh zu seiner eigenen Faszination für das Genre. Die liege in den Geschichten, die Videospiele erzählen können, seit sie die Zweidimensionalität verlassen haben und sich um Realismus und Komplexität bemühen. Es sei das Medium mit der größten narrativen Innovationskraft. Bissell findet sie sowohl in Weltraumepen wie Mass Effect als auch im blutigen Gears of War. Geschichten, in denen sich der Autor zuweilen verloren hat.

Man selbst kontrolliere die Spiele, schreibt er. Aber sie kontrollierten auch den Spieler. Insofern trägt Extra Lives Züge einer Drogenbeichte. Bissell skizziert sein Leben vor der Konsole, rekapituliert seine Erfahrungen und beschreibt die Frustration und die nahezu dämonische Anziehungskraft, die von den Spielen ausgeht: "These days I play video games in the morning, play video games in the afternoon, and spend my evenings playing video games.“ Er schreibt solche Sätze mit einer gewissen Faszination für seine eigene Schwäche, die er auf Partys niemanden erklären könne – "routinely torn about whether video games are a worthy way to spend my time." Die Zerrissenheit des Autors, ob Videospiele tatsächlich Kunst sind oder bloße Unterhaltung, spürt man auf jeder Seite.

Diese Frage wird er im Buch nicht klären. Aber er stellt sie auch an Romane und Filme. Mit ihnen setzt Bissell das Videospiel gleich. Viel ginge es um Eskapismus, um den Sog, den es erzeugen kann und Bissell sogar die Wahl Barack Obamas verpassen ließ, bewaffnet mit "a baseball bat, a 10mm pistol and six rounds of ammunition", irgendwo im verseuchten Ödland von Fallout 3. Im Gegensatz zur Literatur und dem Film hätten Videospiele den Vorteil der Partizipation und der Offenheit. Nicht der Protagonist sei hineingeworfen in die Geschichten, sondern wir. Sie eigneten sich zum Erlebnis atavistischer Ängste und auch zur Empfindung von unschuldigem Unwissen, das uns der Kindheit näherbringe. Bissell widmet selbst dem verrufenen Gangsterspiel Grand Theft Auto ein ganzes Kapitel. Er lobt dessen Moralität und übersteigerte Gewaltdarstellung, die einzig dazu diene, dem Spieler die Frage zu stellen: Willst du das wirklich tun?

So streitbar derlei Thesen sein mögen – sie sind anregender als das Ressentiment, das Videospielern noch allenthalben entgegenschlägt und zumeist nur nachlässig mit kulturkritischer Rhetorik bemäntelt ist. Deshalb wäre zu hoffen, dass Extra Lives auch im killerspielhysterischen Deutschland einen Übersetzer findet. Lesenswert wird das Buch durch das ambivalente Verhältnis, das Bissell zu seiner eigenen Spielerkarriere zu haben scheint. Auf der einen Seite die Begeisterung, auf der anderen die verschlafenen Tage, in denen er Kokain nahm und in seinen Klamotten aufwachte. Verführung und Ekel, Stolz und Reue stehen in seinen kenntnisreichen, witzigen Ausführungen oft dicht zusammen. In solchen Momenten erhebt sich Extra Lives über die Frage nach dem künstlerischen Anspruch dieser Unterhaltungsform: Es wird eine Meditation über deren Sinn und Unsinn.

Der schlechte Ruf des Genres rühre nicht nur vom erzählerischen Stumpfsinn, den Bissell an vielen Beispielen beklagt. Er erwachse auch durch den Mangel profunder Auseinandersetzung. Videospielzeitschriften seien zumeist nur Vermarktungsorgane. Kaum jemand stelle darin die Fragen, welcher ästhetischen Tradition ein Spiel folge und welche Emotionen es in einem auszulösen vermag. Nur in manchen Blogs fände diese Debatte statt, nahezu unbeachtet von der Öffentlichkeit.

Das Buch schildert Begegnungen mit Größen der Branche, mit Peter Molyneux oder Jonathan Blow, der das vielgerühmte Indie-Game Braid entwickelt hat. Solche Recherchen sind getragen von der Frage, wohin das Genre künftig steuert. Wird es komplexer oder simpler? Ist seine Entwicklung von Firmen wie Apple abhängig? Der Autor gibt uns keine endgültige Antwort. Er macht aber ziemlich früh klar: Wir befinden uns im goldenen Zeitalter des Videospielens.

Tom Bissell: Extra Lives Why Video Games matter; Pantheon Books, 2010; 220 S., 17,30 €

Mit freundlicher Genehmigung von ZEIT Online.

David Hugendick

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