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„Pretty Woman“ oder das Märchen von Aschenputtel Vivian (Julia Roberts) und Prinz Edward (Richard Gere). Foto: ZDF

© Taurus

Gegen den Mainstream: Die Zuschauerseele braucht Feuchtgebiete

"Lindenstraße", Pilcher, "Pretty Woman" - was wäre das Fernsehen ohne Schnulzen? Ein Plädoyer für seichtes Fernsehen.

In den Online-Foren stimmt ein Chor von zornigen Heiligen zu jeder passenden Gelegenheit sein intolerantes Lied an: Weg mit dem „deutschen Serienschrott“, her mit den US-Serien, nieder mit dem Edelkitsch, auch noch von „meinen Zwangsgebühren“ produziert.

Ja, die Pharisäer posaunen, rühmen ein Gut-Fernsehen, das nur sie kennen – ohne Herz, ohne Christiane Hörbiger, ohne Happy End, ohne Vertrautheitsgeruch, ohne das wohlige Suhlen in der Durchschaubarkeit. 45 Minuten oder gar 90 Minuten – nichts als nichts sonst, kein Anspruch, keine Rechenschaft. Nur der Wohllaut der Phrasen: „Du musst an dich denken.“ „Ich seh’s dir an: Du bist verliebt.“ Viele Postkartenschönheiten auf dem Schirm. Sieht so die Verderbtheit eines uneigentlichen Lebens aus? Ist da bloß der Zuschauertrotz am Werk, der sich der Erziehung zum Gut-Fernsehen verweigert?

Ich bin eine halbe Woche bewusst dem Weg des Schlechten gefolgt. Habe mich am frühen Sonntagabend bei den Trauerweiden der „Lindenstraße“ eingefunden, habe „Tatort“ geschwänzt und stattdessen gepilchert („Die versprochene Braut“). War am Montag nicht in Merkels „Wahlarena“, sondern in Heino Ferchs „Spuren des Bösen“ (eine Wiederholung), ließ am Dienstag die deutschen Kicker bei den Fähringern allein, stahl mich zu „Pretty Woman“. Und ich lebe noch.

Bei der „Lindenstraße“ ist da alles wie immer, wie es vor tausendundeiner Folge war, als es losbeimerte. Zwei Alte im Rollstuhl, eine demente Mutter mit gekündigtem Heimplatz, ein arbeitsloser Journalist kriegt eine Anzeige an den Hals, eine bipolare Gemütsstörung ergreift einen jungen Mann, Dr. Dresslers Parteikarriere zerschlägt sich ... Und in China fällt ein Sack Reis um?

Na ja. So ist es eben auch in der Welt, eng und klein und damit fernsehtauglich. In Geißendörfers stiller Kammer für des Lebens Jammer lässt es sich beim Schicksalsroulette zusehen. Der Weltgeist mag da im Kreis gehen, der 68er-Traum vergehen (solche melancholischen Andeutungen sind die stärksten Momente der Soap), aber der TV-Romantiker kann hinter allem nüchternen Getue ein Herz und eine Haltung entdecken: die heute geradezu revolutionäre Behauptung, dass Jung und Alt in einer Fernsehserie miteinander etwas zu tun haben können. Hätte er solche Erfahrung auf dem parallel laufenden ZDF-Konkurrenzangebot „berlin direkt“ auch gemacht?

Zugegeben: Von Rosamunde Pilcher und der Story mit dem indischen Zimmermädchen, das den englischen Gutsbesitzer freit, bleiben nur (nur?) schöne Fernsehgesichter in Erinnerung, aus denen weder Buch und Regie mehr als Klischees herausgeholt haben. Aber ist es nicht erlaubt, den Gang mit den Berliner „Tatort“-Kommissaren in die brutale U-Bahn-Gewalt zu verweigern? Das Schlechte ist auch Freiheit.

Und dann kam „Pretty Woman“. Am Dienstagabend im Ersten Programm , gegen Nationalelf-Fußball. Wer da nicht dabei war, ist selber schuld. Ein Hollywood-Kunstwerk von höchster Qualität, je öfter man es sieht. Weinfaktor, Lachfaktor, Anmutsfaktor, Erotikfaktor, Würdefaktor – in den Staub, ihr Schnulzenverächter. Ein Diamant, den man nicht mehr sieht, wenn engstirnige und ungeduldige Internetter mit verschlossenen Herzen und der Unfähigkeit, sich eine Geschichte erzählen zu lassen, darüber bestimmen, was gutes Fernsehen ist und was nicht. Nikolaus von Festenberg

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