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Grand-Prix-Vorentscheid: Casting für Deutschland

ARD und ProSieben suchen Volkes Stimme für den European Song Contest. Stefan Raab will nicht den Bohlen geben. Doch die ARD sieht aus wie der Assi von ProSieben.

Wir sind das Fernsehvolk, und weil wir das Fernsehvolk sind, werden wir uns schuldig machen. Schuldig daran, womit Deutschland am 29. Mai beim Finale vom „Eurovision Song Contest“ (ESC) in Oslo versuchen wird, den Rest von Europa zu übertrumpfen. Nach den durchwachsenen ESC-Teilnahmen der vergangenen Jahre hat die ARD in einem Akt der Verzweiflung (oder Klugheit?) den Privatsender ProSieben und dessen Star Stefan Raab mit ans Mikrofon geholt. Wann immer dieser Entertainer und Musiker am Song Contest beteiligt war, ging es für Deutschland zwar mit etwas Fremdschämen, aber doch gut aus. Die Plätze 7, 5 und 8 veranlassten ARD-Programmdirektor Volker Herres bei der Pressekonferenz in Berlin zu dieser Prognose: „Wir werden den 4. Platz machen. Denn die 4 ist die mathematische Fortführung der Reihe 7, 5 und 8.“ So gesehen könnte Herres auch die Lottozahlen prognostizieren.

Die Aufgabe des Fernsehvolks dabei ist denkbar einfach und undankbar. Es muss über die Castingshow „Unser Star für Oslo“ von ARD und ProSieben den Teilnehmer und dessen Beitrag für die 55. Austragung des ESC bestimmen. Und das geht so: Mehr als 5000 Deutsche – die Pressemappe spricht von „5000 Musikern“ - hatten sich bei den Castings beworben, aus den „20 talentiertesten Bewerbern“ – pari nach Mann und Frau sortiert – wird das Supertalent ermittelt. Der deutsche Grand-Prix-Vorentscheid dauert acht Fernsehshows lang (sechs ProSieben, zwei ARD), bis am 12. März Sieger und Siegerlied feststehen. Die erste Entscheidung fällt am 2. Februar um 20 Uhr 15 bei ProSieben, das Erste zeigt das Finale am 12. März. Bei jeder Runde sind die Zuschauer aufgefordert, per Telefon und SMS den Daumen zu heben oder zu senken. Kurz: Es werden ein Volkssänger und ein Volkslied gekürt. Raab sagte, durch dieses Verfahren sei gewährleistet, dass Star und Beitrag für Oslo „mainstreamig“ daherkommen. Anders: Raab geht davon aus, dass Millionen Deutsche weniger irren als zwei Dutzend. Denn auch „Unser Star für Oslo“ hat eine Jury. Stefan Raab ist der Präsident und deswegen immer dabei. Die Mitjuroren wechseln von Runde zu Runde. In den beiden Auftaktshows sind das Yvonne Catterfeld und Marius Müller-Westernhagen, danach Sarah Connor und Peter Maffay. Weiter auf der Liste: Jan Delay, Xavier Naidoo, Sasha, R-&-B- Sängerin Joy Denalane, „Ich + Ich“-Sänger Adel Tawil, Silbermond-Frontfrau Stefanie Kloß, die Chansonnière Barbara Schöneberger und Reamonn-Frontmann Rea Garvey. Die Fachkräfte belegen das Diktum von Präses Raab: „Wir suchen ernsthaft fundiertes sängerisches Talent.“ Den ESC nimmt der Scherzkeks ernst. Der Supervisor will nicht mit einer Blamage von der Bühne gehen, ein Platz unter den Top Ten muss es werden.

„Unser Star für Oslo“ steigt gleich mit dem Wettbewerb ein, anders als bei „Deutschland sucht den Superstar“ von RTL soll es vorab kein „Best of Peinlichkeit“ geben, keine Kandidaten-Verhaue à la Dieter Bohlen; allerdings wird in der Raab-Show „TV total“ der eine oder andere unqualifizierte Bewerber zu verlachen sein. Als Moderatoren der Liveshows agieren der Pro-Sieben-Mann Matthias Opdenhövel und die 1-Live-Radiomoderatorin Sabine Heinrich.

Das Timing, wonach Volkssänger und Volkslied für Oslo bereits am 12. März bestimmt sind, werden ProSieben, das Erste und die Pop- und Jugendwellen des ARD-Hörfunks zu einer nicht enden wollenden „Emotionalisierungs-Kampagne“ nutzen, wie Herres sagte. Ein Entkommen soll unmöglich werden. Der ARD-Programmchef rechtfertigte beim Gespräch im Restaurant auf dem Berliner Reichstag (!) die Liaison von kommerziellem und öffentlich-rechtlichem Sender: „Wo es um eine nationale Aufgabe geht, da muss man die Kräfte bündeln. Wo es um unseren Star für Oslo geht, da kenne ich keine Konkurrenten mehr, sondern nur noch Deutsche.“ So viel Nationalrausch ist schon eine Wilhelm-Zwo-Zitat-Anleihe wert.

Abseits dieser Dicken-Hose-Rhetorik wurde sehr deutlich, wer bei der Veranstaltung das Mikrofon führt: Stefan Raab und seine Pro-Sieben-Mannschaft. Zwar zahlt jeder Sender seine Shows selbst, zugleich wird der Privatsender immer am Dienstag ausstrahlen. Kaum ist die Show in Köln-Mülheim beendet, rennt Raab ins benachbarte Studio, um sich in seiner „TV total“-Sendung seinen Reim drauf zu machen. Die ARD ist am Freitag dran und macht nix draus. Die ARD sieht aus wie der Assi von ProSieben.

Ob es zu einer Fortsetzung kommt, machen die Sender vom Ergebnis abhängig. Ein Experiment ist es allemal: Der Pro-Sieben-Zuschauer ist im Schnitt 35 Jahre alt, der ARD-Zuschauer 61. Wächst beim ESC zusammen, was beim Restprogramm niemals zusammenwachsen wollte?

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