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Medien: Grubentod im Erzgebirge

Seit ein paar Minuten bewegt sich nichts mehr. Die Menschenschlange am Grenzübergang vom sächsischen Johanngeorgenstadt wird immer länger.

Seit ein paar Minuten bewegt sich nichts mehr. Die Menschenschlange am Grenzübergang vom sächsischen Johanngeorgenstadt wird immer länger. Ihr Ziel liegt nur hundert Meter weiter, auf der tschechischen Seite: ein riesiger Basar mit den niedrigsten Preisen weit und breit. Eine Stange Zigaretten gibt es hier für zehn Mark. Schuld daran, dass es in der Schlange nicht vorwärts geht, hat der Mann ganz vorne. Es ist Fritz Pleitgen, WDR-Intendant und ARD-Vorsitzender. Er will Szenen für seinen Heimatfilm über das Erzgebirge drehen ("Wiedersehen mit dem Weihnachtsland", 21 Uhr 45, ARD). Der Zollbeamte muss die Drehgenehmigung erst einmal prüfen. Das dauert.

Schon einmal hat der Journalist einen Weihnachtsfilm im Erzgebirge gedreht, nur war es damals kein harmloser Grenzer, der die Arbeit erschwerte. Es war die Stasi. 1978 war das, Pleitgen arbeitete als DDR-Korrespondent für die ARD. Das Format des Heimatfilms wählte er als Notlösung. Nachdem die DDR-Behörden Pleitgens Vorgänger Lothar Loewe ausgewiesen hatten, war an freien Journalismus nicht mehr zu denken. Pleitgen blieb nichts anderes übrig, als sich auf Landschaftsbilder zu beschränken, minutenlange Aufnahmen der Bergmannskapellen und vorzensierte Interviews.

Für den neuen Film hat die Produzentin Carmen Eckhardt einige der Gesprächspartner von 1978 ausfindig gemacht: den Schnitzer aus Königswalde, den Zitherspieler aus Frohnau und Hammer Hansel, den Museumsführer der Frohnauer Hammerschmiede. Pleitgens Hoffnung, sie alle würden heute offen von der damaligen Situation erzählen, erfüllt sich nicht. Über die alten Zeiten will niemand sprechen. Die Dorfbewohner leben noch immer Haus an Haus mit den ehemaligen Spitzeln. Pleitgen sieht noch einen anderen Grund für die Schweigsamkeit der Menschen: "Es muss an der Mentalität der Erzgebirgler liegen", verschlossene Menschen seien das. Auf dem Markt an der tschechischen Grenze schieben sich die Menschen an Ständen vorbei, die vollgestopft sind mit Plastik-Weihnachtsbäumen und illegal gebrannten CDs. Einige drängeln nach vorne, sie haben gehört, dass da einer vom WDR gekommen ist. Pleitgen fragt die Menschen, wo sie herkommen, was sie einkaufen. Eine ältere Dame ist so aufgeregt, dass sie stumm ihren Pudel in die Kamera hält.

In solchen Fällen versucht Pleitgen, die Menschen mit Witzen aufzulockern. Einen Gag bringt er auf jeder Station seiner Reise an. Zum einen fragt er nach dem "Grubentod". Ein Schnaps. Als die Bedienung des Ratskellers zu Annaberg nach dem Essen das Gästebuch reicht, schreibt er: "Alles perfekt, großes Lob / nur eines fehlt: der Grubentod." Er hat daran gefeilt: Am Abend zuvor, als er den Spruch in ein anderes Gästebuch eintrug, reimte er sich noch nicht.

Dem örtlichen Vorsitzenden der Wirtschaftsförderung ist der Verdacht gekommen, der WDR-Intendant wolle ein Klischee vom Weihnachtsland bedienen. "Haben Sie keine Angst", beruhigt Pleitgen, "ich mache Sie schon nicht zu Weihnachtsmännern." Damit ihm die Annaberger das glauben, fügt er hinzu, dass sein Film auch die Geschichte zweier Existenzgründerinnen erzählt. Sie stellen Bettpolster aus Schafwolle her.

Auch die Bergbauanlage Wismut besucht Pleitgen. Bis zur Wende wurde hier Uran für die sowjetischen Atomwaffenarsenale abgebaut. 5300 Arbeiter der Wismut starben bis 1990 an Lungenkrebs, noch immer kommen jährlich 200 dazu. Die Bürgermeisterin von Annaberg hat Angst, aber nicht vor der Wismut. Sie fürchtet, Pleitgen werde im Film einen Witz erzählen, den er von einem der Kumpel gehört hat. "Was ist der Unterschied zwischen Russen und Wessis? Die Wessis sind noch da." "Wissen Sie", sagt Pleitgen der Bürgermeisterin, "wenn die Leute keine Witze mehr übereinander machen dürfen, dann ist es weit gekommen." Wenn gescherzt wird, spürt er festen Boden.

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