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In der Dokumentation „Wiegenlieder“ erzählen Berliner vor teils beeindruckender Bildkulisse über Gute-Nacht-Rituale.

© ZDF

Gute-Nacht-Lieder: Stirbst du nicht, kauf ich dir ein Kleid

Wenn die Nacht beginnt: Der Dokumentarfilm „Wiegenlieder“ von Tamara Trampe ist ein poetischer Streifzug durch die Straßen von Berlin. Und will manchmal zuviel.

Wenn Mutter oder Vater das Lied zum Einschlafen singen, ist das ein sehr intimer Moment voller Liebe und Fürsorge, man hat das Idealbild einer heilen Kindheit vor Augen. Gewisse Einschränkungen im Alltag sind allerdings manchmal unumgänglich. „Am Sonntag singt sie mir nie eins, weil sie dann immer gleich ,Tatort' sehen muss“, sagt das kleine, etwas altkluge Mädchen, das gerade noch die Regentropfen auf seiner Hand gezählt hat, über seine Mutter. Ganz ohne Gute-Nacht-Lieder aufgewachsen ist Detlef, Jahrgang 1955, der bei Pflegeeltern groß wurde und sich nicht einmal daran erinnern kann, einmal als Kind in den Arm genommen worden zu sein. In dem Dokumentarfilm „Wiegenlieder“, den Arte am Freitag zeigt, trifft ihn Autorin Tamara Trampe auf einem Spielplatz, wo er an einer Gitarre zupft.

Trampe und Johann Feindt (Kamera) haben auf den Straßen von Berlin dem Echo gelauscht, das die Menschen aus verschiedenen Ländern, ihre Lieder und Kindheitserinnerungen erzeugen. Ihr Film ist ein musikalischer und poetischer Streifzug durch die Hauptstadt, Töne und Bilder sind grandios montiert, Stimmungen ebenso wichtig wie die Stimmen. Das abendliche, müde Berlin, das laute, rasante Berlin, das kalte, graue Berlin – die Stadt bietet in „Wiegenlieder“ eine bildstarke Kulisse. Da hätte es die etwas gekünstelten Inszenierungen wie die immer wiederkehrenden Riesen-Seifenblasen nicht gebraucht.

Leider drängt sich auch sonst der Gedanke auf, dass die beiden Grimme-Preisträger („Weiße Raben“) etwas zu viel gewollt haben. In den verschiedenen Interviews wirkt Fragestellerin Trampe übertrieben forsch, in dem Bemühen, die traurigen Kindheitsdetails ihrer Gesprächspartner herauszukitzeln, manchmal geradezu aufdringlich. Das trübt etwas den Gesamteindruck von diesem schönen, offen und assoziativ erzählten Film. Interessant sind vor allem die Begegnungen mit dem Komponisten Helmut Oehring, dessen Eltern beide taubstumm waren, und dem tschetschenischen Flüchtling Apti Bisultanow. Die Episode um die Sängerin Jocelyn B. Smith und ihren Chor wirkt dagegen aufgesetzt und überflüssig.

Andere Figuren wiederum treten nur kurz auf. In „Wiegenlieder“ baumeln deshalb zwar im erzählerischen Aufbau viele lose Enden herum, dennoch sind das ausdrucksstarke Momente, die sich zu einem Bild von der Stadt fügen. Das türkische Ehepaar, das in seinem Laden über das größte Glück ihres Lebens nachdenkt. Die Afrikanerin, die ihre Mutter in der Heimat anruft, um mit ihr gemeinsam das Gute-Nacht-Lied ihrer Kindheit zu singen. Die Mittelschichts-Frau, die ihr Baby auf den Beinen hält und dabei sinniert, dass ihr früheres Leben auch in Ordnung war. „Aber es kommt ja wieder – wahrscheinlich.“ Oder Santos, der gerade aus dem Knast wieder raus ist und eine ganz besondere Ode an sein kleines Kind singt, einen rasenden, atemlosen Rap, der wohl zum Einschlafen weniger taugt.

Die Namen der Protagonisten erfährt man übrigens erst im Abspann, ein irritierend unpersönlicher Kniff in einem ansonsten recht persönlichen Film. So blickt man in das schwarze, zuerst ernste, dann unsicher lächelnde Gesicht eines Mannes, der auf Drängen von Tamara Trampe ein Wiegenlied seiner Kindheit singt. Der Text ist erschütternd: „Mein Kind, mein liebes Kind, ich halte dich fest. Wenn du nicht stirbst, kaufe ich dir ein Kleid. Wenn du nicht stirbst, kaufe ich dir Schuhe. Wenn du nicht stirbst, kaufe ich dir Schmuck.“ Der Mann lächelt weiter. Wir erfahren nicht einmal, wie er heißt, geschweige denn, woher er kommt, was er erlebt hat und mit dem Lied verbindet. Er bleibt ein Niemand.

„Wiegenlieder“, Arte, 23 Uhr

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