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Medien: Im Testbetrieb

Der Begriff Experiment ist Christiane zu Salm nicht radikal genug: "Operation am offenen Herzen", nennt sie, was bei Neun Live passiert, dem "Patienten, der früher mal tm3 hieß und kränkelte". Sie meint den Versuch, den Sender im Wesentlichen über Anrufe zu finanzieren.

Der Begriff Experiment ist Christiane zu Salm nicht radikal genug: "Operation am offenen Herzen", nennt sie, was bei Neun Live passiert, dem "Patienten, der früher mal tm3 hieß und kränkelte". Sie meint den Versuch, den Sender im Wesentlichen über Anrufe zu finanzieren. Das Programm wird nämlich sozusagen vor laufender Kamera optimiert. Zwar sind die Zeiten vorbei, als unbeholfene Moderatoren die Antwort zu jeder zweiten Quiz-Frage vorwegnahmen. Und auch Ex- Big-Brother-Star Alida verspricht sich nur noch gelegentlich. Trotzdem, selbst zu Salm findet die Bezeichnung "stümperhaft" für einige Formate noch schmeichlerisch. Sie sagt, dass man den Sender eben nicht im "Elfenbeinturm" habe entwickeln wollen.

Das hat einen gewissen Charme. Und man kann sozusagen live miterleben, dass die griffige Idee, rund um die Uhr live zu senden, offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss war. Dabei hatte Sender-Chefin zu Salm Mitte letzten Jahres vollmundig das "Mitmachfernsehen" ausgerufen. Ab September, als tm3 in Neun Live verwandelt wurde, sollte es 24 Stunden Live-Programm geben. Egal, ob Rate-, Spiel- oder Service-Show ö Hauptsache, man kann anrufen. Meist, um 50 bis 100 Euro zu gewinnen. Neun Live hat also ein klares Profil, doch es taugte offenbar nicht für 24 Stunden Live-TV. Darauf kommt es zu Salm heute gar nicht mehr an. "Niemand soll uns doch bitte auf die 24 Stunden festnageln. Entscheidend ist, dass man rund um die Uhr mitmachen kann", sagt sie. Das kann man auch bei alten US-Serien wie "Loveboat" oder "MASH", indem man Quizfragen zur ausgestrahlten Folge beantwortet. Oder bei den kürzlich gestarteten Konserven-Formaten "do it yourself" oder der "Vorher-Nachher-Show". Da gibt es dann Experten-Tipps.

Die Losung vom Mitmachfernsehen gilt also noch immer und mit ihr der besondere Sender-Vorzug: Neun Live zeigt so gut wie keine Werbung, weil es nicht von Werbung leben will. Finanziert wird Neun Live zur Hälfte von seinen Nutzern, von den Zuschauern, die eine 01379- oder 0190-Nummer wählen. Und die Anruferzahlen steigen. Im September riefen 4,5 Millionen an. Im Januar sollen es schon 6,8 gewesen sein. Laut zu Salm die Hälfte dessen, was nötig ist, um den Sender aus Telefonerlösen zu finanzieren. Doch das eintönige Aneinanderreihen von Live-Shows mit Anruf-Animateur treibt die Zuschauer langfristig nicht ohne Rücksicht auf Verluste ans Telefon. "Das sah zu Beginn einfach noch nicht wie neuartiges, anständiges Fernsehen aus", findet auch zu Salm. Also sinkt der Live-Anteil, und das nicht nur nachts, wenn sechs Stunden lang Erotik-Clips laufen.

Dass trotzdem viel telefoniert wird, dafür sollen Themenschwerpunkte sorgen. Zwar weiß kein Senderverantwortlicher wirklich, wer da anruft, dafür aber, bei welchen Sendungen zu welcher Tageszeit die Leitungen glühen: Der Vormittagstelefonierer ist demnach ein Freund der Schlager- und Volksmusik. Die Folge sind viele Musikprogramme mit Wunschmöglichkeit. Am Nachmittag träumen die Zuschauer offenbar von fernen Ländern, also soll eine "Ferienwelt" entstehen. Auch, um das Reiseshopping-Format "Sonnenklar" zu unterstützen, das in der letzten Januarwoche immerhin für 1,6 Millionen Euro Reisen verkauft hat. Was die Pläne für den Abend angeht, hält zu Salm sich noch bedeckt: Musik soll im Vordergrund stehen ö all das für die Zielgruppe 30-Plus, denn "Jugendsender gibt es schon genug", sagt die ehemalige MTV-Chefin. Allerhand zu tun also für den neuen Programmdirektor Marcus Wolter, der zum 1. Februar seinen Job angetreten hat und früher bei Viva und bei Brainpool war.

Einstweilen gibt man sich bei Neun Live recht aufgekratzt, denn auch die Marktanteile belegten Salm zufolge, dass die Zuschauer das Konzept annehmen: Der durchschnittliche Marktanteil stieg von 0,26 Prozent im September auf 0,43 im Januar. Das Ziel, ein halbes Prozent zu erreichen, ist also nicht fern. Außerdem habe zu Salm den tm-3-Verlust, der bei ihrem Antritt 130 Millionen Euro betrug, im letzten Jahr um 75 Prozent verringert. Dementsprechend will zu Salm im Jahr 2003 schwarze Zahlen mit Neun Live schreiben. Das dürfte auch Leo Kirchs gebeutelter ProSieben-Sat-1-Senderfamilie gefallen, über deren Ausstieg bei Neun Live kürzlich spekuliert wurde. Zu Salm dementierte allerdings umgehend, und auch ProSieben-Sat-1-Chef Urs Rohner ließ wissen, dass man die 48,4 Prozent an der Euvia Media AG behalten wolle.

Herrscht also eitel Sonnenschein? Die Landesmedienanstalten wollen offenbar Wasser in den süßlichen Wein gießen. Sie finden, das Programm sei nicht vielfältig genug. In Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen sollte der Mimachsender deshalb aus den Kabelnetzen fliegen ö zu Gunsten des Nachrichtensenders N24, der auch Kirch gehört. In NRW hat man sich nun geeinigt und teilt das Bundesland vorerst untereinander auf. In Niedersachsen ist Neun Live nur noch zwischen sechs und 14 Uhr zu sehen, wogegen Neun Live Beschwerde einlegen will.

Der Patient ist also noch nicht über den Berg, scheint aber auf dem Weg der Besserung. Dass man auf der Suche nach dem 24-Stunden-Live-Programm einen Mix aus Musikfernsehen, Reisekanal und Service-TV mit Anrufmöglichkeit geschaffen hat, könnte man als Fortschritt bezeichnen. Viele Entdeckungen wurden ja eher nebenbei gemacht: das Penicillin zum Beispiel oder die Röntgenstrahlen. Bei Neun Live erfährt man Risiken und Nebenwirkungen schon nach wenigen Stunden Programm.

Heiko Dilk

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