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Internet: Alte Mails sorgen für frische Wut

Peinliche Fotos, anzügliche Foreneinträge oder vertrauliche Daten - sind sie einmal im Internet gelandet, ist es meist zu spät. Denn das Netz vergisst nichts. Dabei sollte es das, sagen Medienrechtler - und fordern ein Verfallsdatum.

Jetzt drohe ihr der Typ auch noch damit, sie vor Gericht zu verklagen, beschwert sich „evergreen_girly“. „Ich habe ja nie behauptet, er sei pädophil. Ich habe nur gesagt, dass er auf Mädchen steht, die sich noch nicht ganz im Klaren über sich selbst sind“, schreibt sie auf der Internetseite Dontdatehimgirl.com, was so viel bedeutet wie: Triff ihn lieber nicht, Mädchen. In dieser Community teilen amerikanische Frauen ihre Erfahrungen beim Date. Die Liste der vollständigen Männernamen ist lang, die Vorwürfe sind manchmal hart. Und im Grunde kann sie jeder einsehen, der sich zwei Minuten Zeit für die Anmeldung nimmt. So ist über Erik M. zu erfahren, dass er Frauen nur finanziell ausnehmen will. Der Eintrag zum Baseball-Spieler Matt B. ist mit der Bemerkung versehen, er sei ein heilloser Lügner. Kein Wunder, dass einige der mit Klarnamen genannten Männer offenbar überlegen, gerichtlich gegen die Verleumdungen vorzugehen. Die üble Nachrede allerdings steht im Raum, also: im Netz. Weil dort alles irgendwie verlinkt ist, sind solche Flecken auf der eigenen Internet-Biographie kaum zu entfernen. Das Internet vergisst nicht. Und doch wäre es besser, wenn es das täte, meint der Harvard-Professor Viktor Mayer-Schönberger.

Der Medienrechts-Experte fordert ein Verfallsdatum für Internetseiten. Und nicht nur für die. Eigentlich müsse jede digitale Datei, die wir am Computer erstellen, mit einem Ablauftermin versehen werden, sagt Mayer-Schönberger. Damit könnte verhindert werden, dass jemand Jahre später von einem Bild verfolgt wird, dass er in einer Jugendlaune auf eine Plattform gestellt hat. Der Medienrechtler zitiert gerne das Beispiel von der angehenden Lehrerin Stacy Snyder, die angeblich nicht unterrichten durfte, weil im Internet ein Foto kursierte, dass sie als betrunkene Piratin mit Hut zeigte. Sie löschte es von der Seite, auf die sie es geladen hatte. Längst war es an anderen Stellen aufgetaucht. So etwas ließe sich mit einem Verfallsdatum vermeiden, sagt Mayer-Schönberger.

Ganz praktisch stellt er sich das so vor: Wenn ein Computernutzer ein neues Word-Dokument anlegt oder ein Bild ins Netz lädt, wird er gefragt, wie lange es existieren soll. Bei der Word-Datei würde er beim ersten Speichern also nicht nur einen Namen, sondern auch ein Löschdatum vergeben. In diesem Fall müsste das der Hersteller Microsoft ermöglichen, bei den Webseiten wären die Suchmaschinen-Betreiber gefragt, die dafür sorgen könnten, dass Homepages, die „abgelaufen“ sind, von Google oder Yahoo einfach nicht mehr gefunden werden. Mayer-Schönberger wünscht sich dazu eine gesetzliche Regelung. „Es geht um die Sensibilisierung der Nutzer. Während dieser Zehntel-Sekunde, in der ich das Verfallsdatum angebe, bin ich gezwungen zu überlegen: Wie lange brauche ich diese Sache.“ Könnte mir das Bild in zehn Jahren, wenn es ein potentieller Chef fände, vielleicht schaden?

Das Bewusstsein für die Folgen von achtlos ins Netz gestellten Informationen wächst in Europa langsam. Eine britische Datenschutz-Behörde hat herausgefunden, dass 70 Prozent der 14- bis 21-Jährigen nach eigenen Angaben erst einmal ein paar Dinge entfernen müssten, bevor sie Arbeitgebern erlauben würden, im Internet nach ihnen zu suchen. Das ist mit spezialisierten Personensuchmaschinen leichter geworden. Das Entfernen dagegen ist nahezu unmöglich. Der Direktor des Deutschen Digitalen Instituts Jo Gröbel hält Mayer-Schönbergers Vorschlag trotzdem nicht für sinnvoll. Reputations-Probleme im Internet müssten über „Entscheidungsprozesse im sozialen Raum“ geregelt werden, nicht mit technischen Veränderungen. Dafür sei die Einsicht der Netznutzer-Gemeinschaft zentral, dass nicht jedes kleinste Gerücht von Bedeutung ist. „Man muss transparent machen, dass da jede Menge Müll kursiert.“ Die Tatsache, dass das Web nichts vergisst, wertet Gröbel eher positiv. Alltagsarchäologen würden sich in etlichen Jahren freuen, über all das, was sie dort finden. Mayer-Schönberger sagt dagegen: In einem unvergesslichen Internet verliert der von Natur aus vergessliche Mensch die Übersicht. Das Gehirn schlägt ihm Schnippchen, weil zeitliche Dimensionen verloren gehen.

Wenn jemand im Mail-Programm eine Nachricht von vor zehn Jahren findet, in der er sich mit einem Freund streitet, ist die Wut plötzlich wieder frisch, das zeige die Hirnforschung. Fast egal ist in dem Moment, dass die beiden sich vor zwei Jahren versöhnt haben. Genauso läuft das im Internet. Dem Surfer sind uralte Informationen viel zu wichtig. Wen stört es heute, wenn ein Präsidentschaftskandidat vor 20 Jahren mit dem Kopf auf der Kloschüssel einschlief? Sobald ein Bild existiert: viel zu viele. Mit seinem Verfallsdatum will Mayer-Schönberger das ändern. Im Augenblick ist es vor allem eine Idee. „Die Zukunft muss erst gedacht und dann umgesetzt werden.“

Rufgeschädigte helfen sich eben noch mit anderen Mitteln. In den USA machen sie von den Diensten der Seite Reputationdefender.com Gebrauch. Für 10 Dollar im Monat scannen die Betreiber das Netz auf schädliche Informationen. Da das mit dem Entfernen so eine Sache ist, bedient man sich vor allem einer anderen Strategie, die der Gründer als „Google-Versicherung“ bezeichnet. Einfach möglichst viele eigene Homepages und Blogs anlegen, damit die selbst gemachten Informationen bei den Suchmaschinen-Treffern an erster Stelle stehen. Und nicht Pädophilen-Geschichten, die „evergreen_girly“ verbreitet.

Johannes Gernert

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