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Vinu

© Tsp

Internet: Die Welt in 140 Zeichen

Über die Online-Netzwerke scheinen die Leser weltweit näher an der Nachricht zu sein. Im Fall von Bombay macht sich ein Nutzer von Twitter selbst zur Nachricht.

Es sind die Sekunden des Bürgerjournalisten. Irgendwo da draußen im Finanzviertel von Bombay hört er einen Knall, dann einen zweiten. Es ist 22 Uhr 30, 26. November. Vinukumar Ranganathan nimmt seine Kameratasche und geht auf die Straße. Er sieht Polizisten mit Maschinengewehren, Blutlachen, zerfetzte Autoteile. Immer wieder drückt er auf den Auslöser. Zu Hause stellt er die Aufnahmen auf die Foto-Plattform „Flickr“. Über das Sozialnetzwerk Twitter schreibt er: „Habe laute Schüsse gehört und sie schmeißen offenbar Granaten von der Terrasse auf die Tankstelle.“ Weniger als 140 Zeichen braucht Vinukumar Ranganathan, kurz Vinu, 27 Jahre alt und Software-Entwickler für die kurzen Nachrichten, die er auf seiner Twitter-Seite www.twitter.com/vinu eingibt. Wie der Live-Ticker einer Nachrichtenseite lesen sich die telegrammartigen Notizen, dazwischen Links zu einer Homepage, die die Toten der Anschläge auflistet und Verweise zu Medienberichten.

Über eine Million Nutzer von Twitter veröffentlichen so täglich Millionen kurzer Sätze im Netz, dokumentieren die Banalität ihres Alltags, tauschen allerlei Unfug oder eben wichtige Informationen aus. Während in den vergangenen Tagen der Flughafen von Bangkok besetzt war, liefen auf Twitter Airline-Ankündigungen zwischen politischen Kurzkommentaren ein. Jeder einzelne Eintrag ist komprimiert auf die Länge einer SMS. Freunde können auf den Seiten das Leben der anderen verfolgen, indem sie zu „Followern“ werden und die Twitter-Nachrichten der Kumpels oder jene zu einem bestimmten Thema abonnieren. Bei Vinu waren es irgendwann nicht mehr nur Freunde. Er hatte bald um die 1000 „Follower“.

Das kurze, schnelle Gezwitscher des frühen Netzvögelchens Twitter war bei den Anschlägen in Bombay vor der tiefen verlässlichen Stimme des alten Nachrichtenbären CNN zu hören. Blitzartig verbreiteten sich über Communitys wie Face book oder Flickr erste rohe Informationen. Wächst im Netz so eine Konkurrenz für die etablierten Medien heran?

Es ist eine Frage, die sich der Medienwissenschaftler Christoph Neuberger seit den Anschlägen vom 11. September immer wieder stellt. Augenzeugenberichte seien da erstmals in großen Mengen nicht nur über klassische Medien, sondern auch übers Internet an die Öffentlichkeit gelangt. 2004, beim Tsunami in Indonesien, oder 2005, bei den Anschlägen von London, nahm die Bedeutung der Handybilder zu. Jetzt landen Informationen über Dienste wie Twitter noch zügiger im Netz.

Längst haben die Medienhäuser den Nutzen der Nutzer erkannt. „Bild“ will Leserreporter mit Mini-Videokameras ausstatten. CNN.com lässt Zuschauer auf einer Seite namens iReport.com Clips hochladen. Im vergangenen Jahr ist auf diesem Weg ein Augenzeugenvideo von einer High-School-Schießerei ins CNN-Programm gelangt.

„Ein Profifotograf“, sagt Neuberger, „ist nie zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“ Irgendein Twitterer oder Blogger sei es meistens. Und im Gegensatz zum Profi verlangt der Nachrichtenamateur oft kein Honorar. Deswegen anzunehmen, Leserreporter sparten den Verlagen Geld, sei jedoch ein Trugschluss, sagt Jochen Wegner, Chefredakteur von Focus Online: „Das Gegenteil ist der Fall – User Generated Content erhöht den Aufwand für Journalisten dramatisch. Wir beschäftigen mittlerweile ein Team von zehn Festen und Freien, die sich ausschließlich um das Feedback der User kümmern.“

Was die ungefilterten Augenzeugenberichte für die Zuschauer und Leser so interessant mache, sei nach wie vor der „Anschein von Authentizität“, sagt Medienwissenschaftler Neuberger. Alles wirkt zunächst echt. Aber nicht immer sind die, deren Gezwitscher am lautesten ist, am nächsten am Geschehen. In einem Überblick auf seiner Homepage stellt der Netzforscher Gaurav Mishra etwas ernüchtert fest, dass richtig ernsthaft nur die wenigsten Bürger berichten.

Die britische BBC hat auf ihrer Homepage dessen ungeachtet neben den Eindrücken ihres Korrespondenten Twitter-Kommentare veröffentlicht – gekennzeichnet mit einem Vögelchen. Auch CNN verlinkt auf CNN.com Blogger-Kommentare. Auf eines legt man dort allerdings wert: „Wir haben Twitter für keine unserer Geschichten als Quelle verwendet“, sagt Nick Wrenn, Vizepräsident von CNN International Digital Services.

Der Vorzeige-Bürgerjournalist Vinukumar Ranganathan reagierte übrigens zunächst gar nicht auf das laute Knallen. Erst als seine Schwester ihm von einer Schießerei am Bahnhof erzählte, zog er los, sagte er einer indischen Zeitung. Sie hatte von den Schüssen aus dem Fernsehen erfahren.

Johannes Gernert

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