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Gebete in Teheran. Ein Ausschnitt öffentlichen Lebens im Iran. Die Journalistikdozentin Charlotte Wiedemann kritisiert die eurozentrische Weltsicht in der Medienbranche. Foto: dpa

© AFP

Interview: "Was wissen wir über den Iran?"

Journalismus Dozentin Charlotte Wiedemann über ein eurozentristisches Weltbild, sogenannte Kopftuchmädchen und die Verachtung von Religiosität.

Frau Wiedemann, wir haben im Zeitalter der elektronischen Medien unendlich viele Möglichkeiten, uns zu jeder Zeit über das Geschehen am anderen Ende der Welt zu informieren? Wissen wir heute mehr über die Welt als früher?

Ich vergleiche den Auslandsjournalismus mit dem Städtetourismus: Zwar kann man heute so billig wie nie zuvor in alle europäischen Hauptstädte reisen, aber dort steht man dann vor den gleichen Bekleidungs- und Coffeeshop-Ketten wie zu Hause. Ebenso übersehen wir, dass wir über die vielen Informationskanäle nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Weltgeschehen serviert bekommen und der Blickwinkel sehr oft derselbe ist. Zusätzlich wird diesen Info-Schnipseln eine Eindeutigkeit verliehen, die das Geschehen meist gar nicht hat. Wir müssen wieder lernen, Mehrdeutigkeit und Unübersichtlichkeit zu ertragen.

In Ihrem neuen Buch setzen Sie sich sehr kritisch damit auseinander, wie der Journalismus unser Weltbild prägt. Was ist mit dem Titel „Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben“ gemeint?

Unser Journalismus hat durchaus eine Hautfarbe. Denn die Medienbranche tendiert dazu, eine Weltsicht absolut zu setzen, die eurozentrisch, weiß und säkular ist. Dafür braucht man nicht nach Afrika zu fahren. Afrika beginnt bereits mit dem sogenannten Kopftuchmädchen von nebenan, das gerade an der Uni seinen Master macht, aber von uns immer noch als unterdrücktes Wesen angesehen wird. Weil sie als Kopftuchträgerin für uns gar nichts anderes sein kann.

Woran liegt es, dass wir uns trotz aller Fortbildung der Verinnerlichung unserer Kulturstandards so wenig bewusst sind?

Da würde ich Einspruch einlegen. Die Medienbranche ist ausgesprochen fortbildungsunwillig. Andererseits, wie man beim Islam wieder sieht: Viele schreiben über den Islam, ohne ihn zu kennen, und maßen sich gleichzeitig sehr harte Urteile an. Mein Buch wendet sich gegen die anmaßende Sicherheit im Urteil über andere Kulturen.

Ist das ein spezifisch europäisch-amerikanisches Phänomen? Oder fällt es einem Inder genauso schwer, seine kulturelle Sicht zu verlassen?

Der Unterschied ist, dass der amerikanische und europäische Journalismus die Macht und die Geldmittel hat, unsere Weltsicht noch immer den meisten anderen aufzudrängen. Die australischen Aborigines zum Beispiel würden auf diese Idee nicht kommen. Aber zum Stichwort Indien: Ich wünsche mir, dass künftig ein Deutsch-Inder über Indien berichtet und dass wir insgesamt viel mehr Journalisten mit gemischt-kulturellem Hintergrund eine Chance geben.

Der Islam ist ja nun nicht nur in fernen Weltgegenden zu Hause, sondern auch bei uns. Das müsste doch eigentlich besser funktionieren?

Die modischste Art, die eigene Weltsicht absolut zu setzen, ist heute, fremde Religiosität zu verachten. Da bietet sich der Islam ganz besonders an. Die anmaßende Sicherheit unserer Urteile zeigt sich auch daran, wie unterschiedlich tendenziös wir Islam und Buddhismus darstellen. Aus dem Buddhismus haben wir eine Art Wellnessreligion gemacht. Der Islam dagegen wird in die Nähe einer faschistischen Ideologie gerückt.

Kann man seiner eigenen Weltanschauung überhaupt entkommen?

Mein Buch handelt ja vom „Versuch“, die Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung zu reflektieren. Ich berichte entlang meiner eigenen Erfahrungen und Irrtümer. Wenn wir Journalisten ehrlich wären, müssten wir zu Beginn jedes Beitrags über den Iran sagen, wie wenig wir über dieses Land eigentlich wissen. Und ich habe bei Recherchen in Afrika gemerkt, wie schwer es mir oft fiel, die grundsätzlichsten Fragen zu beantworten: Was ist real? Was ist wahr? Einmal habe ich nicht gemerkt, dass ich einem Blinden gegenübersaß. So blind kann man sein, schon im Kleinen.

Das Gespräch führte Andrea Nüsse

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