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Jenseits der Schwarmintelligenz: Journalismus mit offenem Visier

Nach dem Skandal um den Nannen-Preis und dem Kachelmann-Prozess: Über das neue Selbstverständnis des Journalismus.

Im beschleunigten Journalismus zählen ein paar schlappe Monate als Epoche. Kaum hat das Jahrhundert begonnen, werden Jahrhundertereignisse ausgerufen. Und seit in den Medien der Vier-Tage-Krieg um die Verleihung und Aberkennung des Kisch-Preises für René Pfisters Reportage „Am Stellpult“ tobte, scheint ein gefühltes Jahr vergangen zu sein. Am 5. Mai wog der „Spiegel“-Reporter die Trophäe in seiner Hand. Am 8. Mai rief die Jury „Versehen!“

Nicht umsonst redet der Volksmund vom „Auge des Reporters“. Aber das Pfister’sche Auge hatte keinen Wimpernschlag auf das Betrachten des Stellpults von Horst Seehofer verschwendet, von dem der Bahnhofsvorsteher der CSU seine Spielzeugeisenbahn steuert. Pfister hatte sich das Bild des Hobbykellers nach dem Hörensagen von Kollegen wirklichkeitstreu zurechtgemalt. Doch ein Reporter muss sehen, was er beschreibt. So lautet die Regel.

Die Leser, die das Ganze für ein Luxusproblemchen des Journalismus hielten, waren im Lauf der Debatte beeindruckt, dass ein Berufsstand, den viele für windig halten, so hingebungsvoll über sein Ethos stritt. So gesehen hat die Debatte dem Ansehen des Journalismus mehr gedient als geschadet. Sie war ein Vertrauensgewinn. Und Vertrauen ist das Grundkapital des Journalismus. Der Journalist beschreibt, was er sieht; wägt, was er hört; erklärt, was dem Leser sonst ein Rätsel mit sieben Siegeln bliebe. Er sammelt Materialien für die Meinungsbildung des Kunden. Das Kennzeichen seines Berufs ist die Wahrheitsliebe, nicht der Presseausweis, der ihm Rabatt gewährt.

Die Kontrolle der Dritten Gewalt obliegt der Öffentlichkeit. Richter und Staatsanwälte müssen spüren, dass jede Versuchung zur Selbstherrlichkeit von journalistischen Prozessbeobachtern messerscharf kommentiert wird. Dieses Feld haben die Printmedien in den letzten Jahren entdeckt, selber nicht frei vom Virus der Selbstherrlichkeit. Der Fall Kachelmann war auch ein Fall der Medienjustiz: Alice Schwarzer in der Rolle der Staatsanwältin, ein lebendes Vorurteil gegen den Angeklagten; als scharfzüngige Vertreterin der Verteidigung die „Spiegel“-Reporterin Gisela Friedrichsen, und an der Gerichtskasse zahlt Patricia Riekel, die „Bunte“, gerade einem von Kachelmanns „Lausemädchen“ das Zeugengeld aus. Wenn dieses Dreigestirn sich einer Jury stellen würde, fiele das Urteil herber aus als gegen Pfister. Bei ihm ging es um eine elektrische Eisenbahn. Bei den Damen um die Anmaßung des Jüngsten Gerichts.

Fühlten die Deutschen sich von ihren Journalisten schlecht informiert, würden kaum fünfzig Millionen Bürger eine Tageszeitung lesen – und das im Durchschnitt eine halbe Stunde pro Tag. Hielten sie den Berufsstand der Welterklärer für eine Bundesvereinigung der Schlawiner, hätten die in Deutschland erscheinenden Publikumszeitschriften von „Spiegel“ bis „Bunte“ keine Gesamtauflage von 112 Millionen Exemplaren. Was die wachsende Blogger- und Twitter-Gemeinde diskutiert, stützt sich zu achtzig Prozent auf Berichte der klassischen Medienmarken – denn jede Redaktion bietet ihre Inhalte inzwischen auch im Internet an. Auch da genießt der vertraute Titel Vertrauen.

Um es deutlich zu sagen: Die Zeitung hat eine Zukunft auch ohne Papier. Es kommt darauf an, ob verlässlich recherchiert, spannend geschrieben, verständlich erklärt und der Kundschaft geholfen wird, sich ohne Voreingenommenheit eine Meinung zu bilden. Das Prinzip Zeitung lässt sich nicht besser erklären als mit dem Satz des Vergil: „Rerum cognoscere causas“. Zu deutsch: Die Ursachen der Dinge erkennen. Die drei Worte schmücken täglich die Titelseite des Tagesspiegels.

So viel Zeitung wie heute war nie. Das Internet ist das Inhaltsverzeichnis. Wer sich auf Seiten wie Google News täglich Übersicht über die aktuellen Themen verschafft, kann am Sonntag im „Presseclub“ mitdiskutieren. Kein Thema, über das die Deutschen nicht bis ins letzte Detail von ihren Zeitungen unterrichtet wurden: Die Rente mit 67 plus Tabelle, was Opa im Jahr 2020 überwiesen bekommt, Alzheimer, Pflegenotstand, für und wider Sarrazin. Als IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn über ein Zimmermädchen stürzte, wussten Journalisten sofort alles über die Sexualprotzerei der französischen Elite von den Bourbonen bis zu Sarkozys Ehebett. Selbst der Kenner wundert sich häufig, wie schlau die Kollegen sind.

Seit dem Nannen-Preis-Scharmützel haben andere renommierte Jurys beispielhafte Pressebeiträge für den Theodor-Wolff-Preis, den Herbert-Quandt-Medienpreis und den Deutschen Lokaljournalistenpreis ausgewählt: ergreifende Reportagen aus dem Unrechtsstaat Türkei oder über das folgenschwere Missverständnis einer Lehrerin, die vor muslimischen Schülern ein Schweineschnitzel briet (Wolff-Preis). Von der Jury des Quandt-Preises wurde eine Serie von „Bild“ über den Staatsbetrug bei der Aufnahme Griechenlands in die EU aufs Podest gehoben. Dazu Lokaljournalisten-Preise für „Südkurier“, „Sächsische“- und „Braunschweiger Zeitung“, „Thüringer Allgemeine“ und „Neue Presse“ Hannover. Zeitungen, die „Lust auf Heimat“ machen, die umfassenden Service über Schulen- und Krankenhäuser in ihrem Verbreitungsgebiet liefern und die wichtigen Seiten zwei und drei mit hart recherchierten Reportagen aus der Nahwelt füllen und nicht mit den „Tagesschau“-Gesichtern von Merkel, Rösler, Obama. Nahwelt macht die Regionalzeitung exklusiv.

Das Prinzip Zeitung genießt Vertrauen, denn Journalisten kämpfen mit offenem Visier. Bis auf einige prominente Blogger verbirgt sich der gemeine Internet-Meinungsvertreter hinter Pseudonymen wie „Wackeldackel“ oder „Hotzenplotz“. Ekelige Schmähungen werden mit dem Hinweis gelöscht: „Bitte mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise!“ – Für eine Zeitung mit Haltung gilt: Wir stehen zu unserer Überzeugung. Name statt Anonymität. Das Prinzip Zeitung gewichtet Inhalte nach dem Fachwissen der Redaktion, nicht wie Google nach einem Algorithmus, bei dem die Zahl der Klicks über das Hirn, die Technik über die Argumente siegt. Im Prinzip Zeitung entscheidet menschlicher Sachverstand über Relevanz.

Das Prinzip Zeitung setzt sich ab von der Schwarmintelligenz. Es verteidigt die individuelle Erkenntnis gegen den Massenwahn. Es ist das Gegenmodell zu der vom Fernsehen erfundenen „scripted reality“, in der Laiendarsteller so tun, als wären ihre Drehbuchdialoge das wirkliche Leben. Insoweit erweist sich die Entscheidung der Nannen-Jury auch im Nachhinein als weise. Sie hat eine Vertrauensgrenze aufgezeigt, die der Journalist nicht überschreiten darf – gerade weil andere Medien das täglich tun.

Professor Ernst Elitz war Gründungsintendant des Deutschlandradios. Er lehrt Kultur- und Medienmanagement an der Freien Universität Berlin.

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