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Hartz-IV-, Kriegs- und Überwachungsbefürworter: Wie auf diesem Protestplakat in Facebookoptik sehen viele im Netz Joachim Gauck.

© dpa

Joachim Gauck und das Netz: Sturm, Antisturm, Anti-Antisturm

Verkürzende Zitate, Dramatisierung, böse Fouls - für ihren Umgang mit Joachim Gauck im Netz sind dessen Kritiker zuletzt hart kritisiert worden, auch von anderen Netzautoren. Dass und wie die Gauck-Skeptiker dort jetzt nicht klein beigeben, ist aller Ehren wert.

Man konnte zu Anfang der Woche kurzzeitig den Eindruck gewinnen, das Ruder werde herumgerissen. Mit Sascha Lobo und Christian Jakubetz bellten da - neben vielen anderen - gleich zwei veritable Alpharüden in ihren ureigensten Diskursraum, das Netz, bemängelten - in der Kontroverse um den designierten Bundespräsidenten Joachim Gauck - verkürzende Zitierweisen gerade in der Diskussion via Twitter.

"Es fühlt sich an wie eine unheilige Allianz, wenn sich soziale Medien in ihrem Wunsch nach Verkürzung und Anspitzung und professionelle Medien in ihrem Wunsch nach vermarktbarer Aufmerksamkeit so ergänzen, dass Zitate in den maximalen Wirkungskontext zusammengestaucht und zurechtgebogen werden", schrieb Lobo am Dienstag in seiner Kolumne "Die Mensch-Maschine" bei "Spiegel Online". "Gauck lobt Sarrazin? Das wäre dann doch eine sehr und unzulässig verkürzte Version von Gaucks Standpunkt", schrieb Jakubetz bereits am Montag auf "cicero.de" zur verkürzten Wiedergabe von Aussagen Gaucks etwa zu den Thesen Thilo Sarrazins, die dieser unter anderem gegenüber dem Tagesspiegel getätigt hatte. Bereits am Montagmorgen hatte sich Julia Seeliger über ihren "FAZ"-Blog für eigene Gauck-kritische Twitterpostings entschuldigt.

Werden wir hier also gerade Zeuge eines beispiellosen Vorgangs? Autoritäten im Netz springen einer designierten nationalen Autorität bei und zerren sie, indem sie die Kritik an ihr kritisieren, erfolgreich aus dem dort tobenden Shitstorm? Reagiert das Netz darauf einsichtig, gar beschämt? Verharren wir auf dem Stand, den Tagesspiegel Online gestern Abend zusammenfasste, also mit einem zumindest halbwegs geretteten Gauck? Ist die Bahn jetzt frei für einen Web-2.0-geprüften Bürgerpräsidenten?

Die Antwortet lautet natürlich Nein. Die Diskursmaschine Internet präsentierte sich auch nach den Texten Jakubetz' und Lobos von ihrer stärkeren Seite: Da wurden Zitierweisen verteidigt, Kritiken daran, dass die Kritik erst mit Gaucks Nominierung aufgekommen sei, zurückgewiesen und neue Belege für die kontroverse Position Gaucks zu Fragen der Migration und Integration gesammelt. Gerade Letzteres könnte die Debatte angesichts der hier transkribierten Aussagen aus einem Videointerview Gaucks mit der "Neuen Zürcher Zeitung" noch einmal neu befeuern. Dass Gauck in dem Interview vom Oktober 2010 stark abwägt zwischen den "guten Absichten" des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff in seinem Reden über Deutschland und den Islam, und dem Verständnis für jene, die "allergisch" reagieren, "wenn sie das Gefühl haben, dass was auf dem Boden der europäischen Aufklärung und auch auf dem religiösen Boden Europas gewachsen ist, wenn das überfremdet wird" - das dürfte die auch auf Tagesspiegel Online geführte Diskussion um Gaucks Ansichten zum Thema Integration neu befeuern.

Freilich gäbe es auch hier wieder viel an den Kritikern zu kritisieren. Zu wünschen wäre etwa eine Gegenrede, die darauf eingeht, wie verfälschend auch und gerade eine wortgetreue Transkription des Gesagten für dessen Aussage sein kann. Journalisten wissen, dass sie einen Gesprächspartner oft damit am wirkungsvollsten blamieren können, indem sie seinen häufig eher von Betonungen als von einer korrekten Grammatik konturierten Redefluss 1:1 publizieren. Im Druckbild stechen Wörter wie "überfremdet" mehr heraus als der anschließende, relativierende Einschub.

Das ist so en détail natürlich für den Weltlauf ebenso unwichtig, wie es nicht Joachim Gaucks Problem ist. Auch die spitzfindigen, aber zum Teil durchaus treffenden Analysen der chronisch spitzfindigen und oft treffenden Blogger, die nun bereits wieder folgen, können einem designierten Bundespräsidenten relativ egal sein. Ebenso der erneute Shitstorm, der ihm droht, sollte er in seinen Wortbeiträgen in den nächsten Wochen keine Sprache für Fragen der Integration und zu sozialen Bewegungen wie Occupy finden. Sollte sich Gauck aber je zum Netz als solchem äußern, wäre er, auch angesichts der angespannten Stimmungslage, gut beraten, von den vielen Wahrheiten, die es über das dortige Diskussionsklima zu verbreiten gäbe, die richtige zu wählen. Vielleicht ließe sich ja davon schweigen, dass sich gerade an der Personalie Gauck eine zum Teil unsägliche Neigung zur Kritikasterei, zur Lust an der Demontage und zum Kaputtfragmentieren einer Gesamtperson zu vielen inopportunen Details zeigt. Und davon sprechen, welch wache Demokraten da versammelt sind.

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