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Miriam Brückner (Katharina Wackernagel) inszeniert Kafkas Erzählung.

© ZDF

Jugend ohne Ausweg: Vollständig unsicher

Wo der Fernsehkrimi zur Fernsehkunst wird: „Bella Block“ verarbeitet Franz Kafka.

Bei Franz Kafka muss einem nicht sofort Bella Block einfallen. Ist aber möglich. Die ZDF-Krimireihe hat sich über 30 Folgen so beharrlich Richtung Fernsehliteratur bewegt, dass die Kafka-Kurzgeschichte „Der Fahrgast“ das Grundmuster des aktuellen Falles ausbilden kann. Im Prosawerk heißt es: „Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie.“ Damit ist auch die Lebenssituation von Lenny Gravert (Jacob Matschenz) beschrieben. Mit seinen Schulfreunden Jana (Liv Lisa Fries) und John (Rick Okon) jagt er im Auto durch die Nacht, eine Flasche und eine Pistole gehen von Hand zu Hand. Schüsse fallen, ein Obdachloser wird durch einen Querschläger verletzt. Anhand eines gefundenen Projektils weiß die Polizei, dass die Pistole vor 30 Jahren bei einem Banküberfall, in dessen Folge der Räuber eine Studentin erschoss, verwendet wurde. Der Täter wurde nie ermittelt. Am Ende wird Lenny die Waffe erheben.

Beide Szenen, die zum Eingang, die zum Ausgang, sind gespenstisch spannend. Und Kafkas Erzählung? An der Schule von Lenny, Jana, John wird sie dramatisiert. Das Theaterprojekt leitet die Lehrerin Miriam Brückner (Katharina Wackernagel). Lenny projiziert die Erzählung auf die Realität, er ist der Fahrgast, Miriam Brückner das Mädchen, sein Mädchen, das er in dieser Welt so verloren glaubt wie sich selbst. Im Schatten des alten Verbrechens, dessentwegen Bella Block (Hannelore Hoger) ermittelt, wächst ein neues heran. Der Raubüberfall und das Tötungsdelikt, sie hatten ein klares. äußeres Motiv, die Erlösungssehnsucht, die Lenny treibt, spiegeln eine Wahnwelt. Aus dem Labyrinth tief drinnen gibt es nur einen gewaltsamen Weg nach draußen.

Das Drehbuch von Fabian Thaesler ist kunstvoll konstruiert, ein geglücktes Wagnis, wenn die vibrierende Innerlichkeit der Jugendlichen um Lenny mit den schnöden Notwendigkeiten der Polizeiarbeit kontrastiert wird, wenn der Kafka-Strang die Oberhand über den Banküberfall gewinnt, mit dem ein Leben gewonnen, ein Leben geopfert und ein Leben verpfuscht wurde. „Wir passen nicht mehr aufeinander auf, Martensen“, sagt die Ex-Kommissarin am Schluss zu ihrem Assistenten.

Die Qualität der Krimireihe Bella Block lässt nicht nach

Der 31. Fall der Bella Block ist nicht frei von mancher Merkwürdigkeit in der Handlung, in der Figurenentwicklung. Das verschlägt nichts, die besondere, schier philosophische Note prägt und beeindruckt. Und unten drunter fließt die musikalische Lava von James Blake.

Die Qualität bei dieser Krimireihe des ZDF lässt nicht nach, da steckt ein signifikanter Ehrgeiz drin. Die Kamera von Michael Wiesweg füllt die Räume mit Magie und Intensität, obgleich sie nicht ins Sphärische flüchtet. Innenräume, Außenräume, der Blick hinein, der Blick hinaus, beide stimmen. Thorsten C. Fischer hat die Regie. Er nimmt hohen Anteil an den Figuren, insbesondere an den Schülern, an Lenny Gravetz. ZDF-Redakteur Pit Rampelt spricht von einem „magischen Realismus“ bei Fischers Stil, und er hat recht, da gibt es dieses Schwebende bei den Grenzgängern in der Schule und diese Erdenschwere bei den Erwachsenen. Hannelore Hoger als Bella Block ist die hochkonzentrierte Zentripetalkraft in diesem Geflecht, ihre Bella fahndet illusionslos, niemals kalt, den potenziellen Täter in seiner Psyche will sie so sehr begreifen und ansprechen, dass er die Überzeugung verliert, er müsse seine Tat ausführen. Bella Block ist eine Menschenerkunderin. Die Hoger spielt das so sparsam wie wachsam.

Um die Ex-Kommissarin herum agieren Devid Striesow als Assistent Martensen, Hansjürgen Hürrig als Staatsanwalt Mehlhorn, das ist von gekannter, ebenbürtiger Präsenz. Was in diesem Schauspielerfilm auffällt, das ist die engagierte Lehrerin von Katharina Wackernagel, was aber ins Auge sticht, das sind die Schüler-Darsteller Rick Okon (John), Liv Lisa Fries (Jana) und Jacob Matschenz als Lenny Gravert. Wackernagel lässt ihre Miriam Brückner zwischen überzeugter Pädagogin und Frau von Traurigkeit pendeln. Die eigentliche Sensation ist die Dreierbande der Schüler-Darsteller. Dicht und eigenwillig ist ihr Schauspiel, tief die Sehnsucht und Zerrissenheit der Figuren hinter cooler Camouflage. Vollständig unsicher in Bezug auf ihre Stellung in dieser Welt, in ihrer Stadt, in ihrer Familie.

„Bella Block: Der Fahrgast und das Mädchen“, 20 Uhr 15, ZDF

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