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Ob's was hilft? Während die Grundschüler auf dem Archivbild von 2001 versuchen, mit dem Computer lesen zu lernen, gilt heute als zweifelhaft, ob digitale Medien gerade kleinere Kinder wirklich weiterbringen.

© dpa - pa

Kinder und digitale Medien: Machen Computerspiele blöd?

In seiner jüngsten Schrift warnt der Psychiater Manfred Spitzer vor den Folgen des Konsums neuer Medien für Heranwachsende. Seine Warnung vor der „digitalen Demenz“ erscheint aber überzogen.

Ausgerechnet im Netz finden sich schon jetzt die ersten euphorischen Reaktionen: „Das, was ich als Hausfrau und Mutter als Folge des Medienkonsums meiner Kinder intuitiv gespürt habe, wird nun – endlich – von einem Neurowissenschaftler bestätigt!“, jubelt eine Mutter von drei Halbwüchsigen und einem Grundschüler auf der Webseite des Verlags Droemer Knaur. Dass der dem Ulmer Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer für seine jüngst erschienene Schrift „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ das Forum geliefert hat, ist ihr willkommene Schützenhilfe im täglichen Kampf gegen das Internet: „Ich kam gegen das World Wide Web nicht mehr an“, seufzt sie. Und weiter: „Der Autor spricht mir aus der Seele!“

Spitzer warnt seit Jahren vor der Verdummung nachwachsender Generationen durch extensive Nutzung elektronischer Medien. An seinem neuesten Schlag gegen Computer, Smartphones, Spielkonsolen und Tablets ist schon der Titel besonders starker Tobak – verweist der psychiatrische Fachbegriff Demenz doch auf ein schweres Krankheitsbild, das Menschen meist erst im höheren Lebensalter trifft. Dabei geht es Spitzer vor allem um die Auswirkungen moderner digitaler Medien auf die Reifung junger Gehirne. Schon in seinem Longseller von 2005 „Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft“ hatte der Psychiater detailgenau dargelegt, wie Bildschirm-Bilder auf das Gehirn von kleinen Kindern wirken. Nun fasst er nochmals klipp und klar zusammen: „Die von Kindern unter drei Jahren vor Bildschirmmedien verbrachte Zeit ist verlorene Zeit.“

Was die ganz Kleinen betrifft, dürfte diese Aussage in der hirnphysiologischen und medienpädagogischen Fachwelt tatsächlich nicht für großen Streit sorgen. Denn es wird immer deutlicher: „Baby Einstein“-DVDs machen nicht nur keine Genies aus Säuglingen und Kleinkindern, sondern stehlen ihnen wertvolle Zeit, in der sie echte Lernerfahrungen machen könnten. Und die „Teletubbies“ behindern die Sprachentwicklung von Kleinkindern eher, als dass sie sie voranbringen würden. Für völlig weltunerfahrene Babys liefern Fernsehen und Computer nach übereinstimmender Ansicht der Fachwelt den falschen, weil unzureichenden Stoff. Bild und Ton sind nie ganz perfekt synchronisiert, die Bilder sind flach, Tasten und Schmecken sind unmöglich.

Das Henne-oder-Ei-Problem bleibt bei allen Studien ungelöst.

Eine Langzeituntersuchung aus Neuseeland belegt denn auch, dass diejenigen junge Erwachsenen, die als Kinder am meisten ferngesehen haben, am seltensten einen Hochschulabschluss haben – und zwar auch dann, wenn Faktoren wie Intelligenz des Kindes und Bildungsabschluss seiner Eltern „herausgerechnet“ werden. Zwar gibt es aus naheliegenden Gründen keine Studien, in denen die Kinder zu Anfang ihres Lebens nach dem Zufallsprinzip einer Viel- oder Wenig-Seher-Gruppe zugeteilt würden, sodass das Henne-oder-Ei-Problem geklärt werden könnte. Und Langzeitstudien zur Auswirkung einer vor dem PC verbrachten Kinderzeit fehlen im Unterschied zum Fernsehen noch. Dass ein wissenschaftlich denkender Mediziner Eltern und andere Erzieher zur Vorsicht mahnt, ist trotzdem nachvollziehbar. „Wir dürfen unsere Kinder nicht den größten Teil ihrer wachen Zeit mit Dingen und Tätigkeiten verbringen lassen, für deren positive Auswirkungen es keine Hinweise, für deren negative Auswirkungen es jedoch deutliche Anhaltspunkte gibt.“ Mit dieser skeptischen Haltung steht Spitzer nicht allein. „Reale Erfahrungen, bei denen alle Sinne angesprochen werden, sind entwicklungsförderlicher als gebanntes Hinstarren auf den Fernseher oder den Computer“, bestätigt etwa der Medienpsychologe Helmut Lukesch von der Universität Regensburg.

„Das Lernen allein am Computer funktioniert nicht“ – auch in diesem Punkt hat Spitzer aus der Fachwelt keinen Widerspruch zu erwarten. Dass es ein Irrweg sei, Schulen mit Laptops und Smartboards, den elektronischen Wandtafeln, auszustatten, und dass man Medienkompetenz nicht eigens im Unterricht erlernen müsse, sind allerdings gewagte Thesen. Spitzer würzt sie mit reichlich Polemik: „Nach den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen braucht man einen Computer zum Lernen genauso dringend wie ein Fahrrad zum Schwimmen oder ein Röntgengerät, um Schuhe anzuprobieren.“ Zumindest was ältere Schüler betrifft, sind die Rechner wohl doch etwas nützlicher: So zeigt eine amerikanische Untersuchung von Daniel Beltran und seinem Team aus dem Jahr 2008, dass es die Wahrscheinlichkeit erhöht, den High-School-Abschluss zu schaffen, wenn Schüler zuhause einen Computer zur Verfügung haben. Auch hier wurden Bildungsstand der Eltern und häusliche Situation „herausgerechnet“.

Hinderlich für den Schulerfolg scheint es dagegen zu sein, wenn wesentlich Jüngere eine eigene Spielkonsole geschenkt bekommen. Das legt jedenfalls eine raffiniert angelegte Studie von Robert Weis und Brittany Cerankosky aus dem Jahr 2010 nahe: Sie hatten Eltern für ihre Untersuchung gewonnen, die ohnehin planten, ihrem Kind demnächst eine solche Konsole zu schenken. Die eine Gruppe der Grundschüler bekam die Geräte von den Forschern sofort geschenkt, die andere musste vier Monate darauf warten. In dieser Zeit verbrachten die Kinder, die die ersehnte Konsole schon hatten, deutlich weniger Zeit bei den Hausaufgaben, ihre Leistungen im Lesen und Schreiben fielen gegenüber der Kontrollgruppe ab.

Gänzlich "unpädagogische" Unterhaltungselektronik kann manchmal ungeahnte Lerneffekte entfalten.

In Zukunft dürfte es Wissenschaftler in ethische Probleme stürzen, solche Studien überhaupt zu planen, kommentierten die Neurowissenschaftler Daphne Bavelier und Shawn Green kurz nach Erscheinen der Untersuchung in einem Beitrag für die Fachzeitschrift Neuron. Dort weisen sie allerdings auch darauf hin, dass inhaltlich eher bedenkliche, gänzlich „unpädagogische“ Unterhaltungselektronik manchmal ungeahnt gute Lerneffekte entfaltet. So belegen inzwischen zahlreiche Studien, dass sich die Aufmerksamkeit für unscheinbare Details und die motorische Kontrolle durch Action-Video-Spiele verbessern. „Und es wurde gezeigt, dass die erzielten Verbesserungen sich auch in der realen Welt anwenden lassen.“ Das nützt etwa Patienten, die Schwächen beim räumlichen Sehen haben, aber auch Piloten und Chirurgen, die die Schlüsselloch-Technik anwenden. „Aus Schlechtem kann Gutes werden“, so die Autoren. Spitzers rigoroser Aussage „Computerspiele machen dick, dumm, gewalttätig und stumpfen ab“ würden sie nicht zustimmen. Allerdings wünschen sie sich lehrreiche Spiele ohne grausame Inhalte – aber mit einem Design, das ebenso motiviert wie das der Ballerspiele.

Eins scheint unstrittig: Das Internet hat unsere Welt verändert, es formt und prägt die Gehirne ihrer Bewohner – und es birgt neue Risiken: Dass laut einer 2011 veröffentlichten, vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Studie der Universitäten von Lübeck und Greifswald über die Prävalenz der Internetabhängigkeit (kurz: PINTA 1) heute rund 560 000 Deutsche, etwa ein Prozent der Bevölkerung, „internetsüchtig“ sein müssten, ist trotz der andauernden Diskussion, worin eine solche Sucht genau besteht, bedenklich. Doch ob die Generation der „Digital Natives“ dadurch auch gleich ernsthaft mit verfrühter Demenz bedroht ist, wie Spitzer fürchtet? Das lässt sich so eindeutig kaum sagen.

Im Gegenteil: Alte Damen könnte es sogar davor schützen, so legt zumindest eine Charité-Studie nahe: Für „Berlin bleibt fit“ hat ein Team um die Psychologin Verena Klusmann von der Klinik für Psychiatrie auf dem Campus Benjamin Franklin Seniorinnen, die zuvor noch keine Computer-Erfahrung hatten, einen halbjährigen Intensivkurs verpasst. Er wirkte auf das Gedächtnis der Damen zwischen 70 und 93 ebenso gut wie ein Bewegungsprogramm, das einer Vergleichsgruppe angeboten wurde. Besonderen Spaß machte es den Computer-Neulingen, mit ihren Enkeln E-Mails auszutauschen. Dass dieser intergenerationelle elektronische Briefwechsel Heranwachsenden schadet, ist kaum anzunehmen.

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