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Chillen an der Nordsee. Dieser Fuß gehört nicht unserem Autoren.

© dpa

Kolumne "Ich habe verstanden": Der Nordseeküsten-Schock

Unser Kolumnist ist gerade im Urlaub, gefühlt weit weg vom Informationsgewusel, auf einer Nordseeinsel. Obwohl er zwar einen Zugang zu Medien, Zeitungen und zum Netz hat, bekommt er gerade nichts mit von der Welt. Diese Einsicht versetzt ihm einen Schock. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Matthias Kalle

Keine Ahnung, ob das nun gut ist oder schlecht, jedenfalls: Ich bin seit einer Woche im Urlaub und ich habe seitdem nichts mitbekommen. Dabei bin ich nicht im Regenwald und auch nicht zu Fuß unterwegs zum Südpol; ich beobachte keine Kängurus in Australien, ich schippere nicht mit einem Boot durch die Ägäis, ich zelte nicht in Schweden, fahre nicht mit dem Rad durchs Baltikum. Ich bin auf einer Nordseeinsel, auf der der Teufel los ist, ich habe Zugang zu Medien, zu Fernsehern, zu Zeitungen, zum Internet – aber ich bekomme, wie gesagt, nichts mit von der Welt.

Seltsamerweise habe ich das nicht einmal gemerkt, bis eben, bis mir einfiel, dass ich der einzige Kolumnist Deutschlands bin, der immer seine Kolumne liefert, der niemals „auf Vorrat“ schreibt, 52 Wochen im Jahr, und der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jede dieser Wochen an jedem Freitag etwas besser verstanden zu haben. Aber als ich eben die einschlägigen Nachrichtenseiten im Internet angeschaut habe, da habe ich überhaupt nichts verstanden, denn mir fehlen ganze Tage um zu begreifen, was jeder andere Mensch zu begreifen scheint: wie die Welt sich gerade fühlt, Ende Juli 2014.

Strandkorb, Eis und Sonnenbrand

Andererseits: Auf so einer Nordinsel scheint all das für die Dauer des Sommers egal zu sein – ich bin nicht der einzige, der sich den Informationen entzieht. Wir sind viele, auf engstem Raum, die Informationen, die wir brauchen, sind andere: Wird das Wetter morgen noch mal so schön? Bekomme ich noch einen Strandkorb? Wo ist das Eis wirklich aus eigener Herstellung? Soll man Mittags oder lieber Abends warm essen?

Das sind so Fragen, das sind so Probleme – und ich werde das Gefühl nicht los, dass das so auch völlig in Ordnung ist. Menschen sind nicht dümmer, wenn sie sich für eine kurze Zeit von dem Unbill des Lebens fernhalten und stattdessen andere Probleme wichtiger, dringlicher werden. Eine große Daseinsfrage dieser Tage lautet: Was hilft eigentlich wirklich gegen Sonnenbrand?

Auf einer deutschen Nordseeinsel machen ausschließlich Deutsche Urlaub (es gibt ein paar Österreicher, ein paar Schweizer, aber das war es dann auch schon an Internationalität), man sieht die verschiedensten Autokennzeichen (und da man als Kind, während langer Autofahren, gelernt hat, welche Buchstaben welche Städte bedeuten, kann man die meisten ungefähr zuordnen) und weiß deshalb, dass sich gerade ein Querschnitt der Bundesrepublik auf der Nordseeinsel befindet – sie kommen aus Sachsen und Bayern und Hamburg und Berlin, und manchmal, wenn sie beim Essen am Nebentisch sitzen, dann erfährt man etwas aus deren Welt.

Verpasste Geburtstage, Essen, Preisanstieg

Dann erfährt man zum Beispiel, dass sie leider gerade diesen oder jenen Geburtstag verpassen, dass man diesen Herbst das Haus/die Wohnung renovieren will, dass man auch ein bisschen froh ist, wenn bald wieder ohne die Kinder in den Urlaub fahren kann, dass das „total toll“ ist, dass diese Insel so hundefreundlich ist, dass man hier ja überall sehr gut essen kann, es aber auch schon „im Vergleich zu vor zehn Jahren sehr teuer geworden ist“.

Gespräche, die man hier im Sommer 2014 hört und im Sommer 2008 und im Sommer 1993 und im Sommer 1984. Und das hat dann tatsächlich etwas Versöhnliches, denn die Welt bleibt während des Nordseeurlaubs nicht nur stehen – sie existiert im Prinzip nicht. Vor zwei Wochen ist die deutsche Fußballnationalmannschaft Weltmeister geworden, aber ich bin nicht sicher, dass diese Information hier bereits angekommen ist. Im Urlaub ist Deutschland ein fast erträgliches Land.

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