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Kommentar: Talk raus, das wahre Leben rein

Mit "Anne Will" geht die letzte Talkshow in die Ferien - dafür wird das Fernsehen mit Dokus und Reportagen zur Wundertüte

Geschafft, Anne Will hat sich am Sonntagabend verabschiedet. Das öffentlich-rechtliche Talkfernsehen macht, anders als die Gebühreneinzugszentrale, eine Sommerpause. Längere Erholungsphasen als Kerner und Maischberger, Illner und Beckmann haben nur Lehrer. Die Begründung beider Berufsgruppen ist vergleichbar: Den Pädagogen bleiben die Schüler weg, den Moderatoren die Talkgäste aus Prominenz und Politik. Es ist schon wahr, dass in den Talkshows das größte Erregungspotenzial des Fernsehens steckt. „Anne Will“ ohne Ende, die „NDR Talk Show“ ohne Unterbrechung? Sofort würde das Publikum nach einer Sommer- und nach einer Winterpause schreien. Ein Lob der Pause, auch weil das Fernsehen in den gesprächsfreien Wochen neues Interesse generiert. Das 24-Stunden-Medium darf ja nicht verstummen, die Angst vor der Leere lässt die Macher jeden Talk-Platz sofort neu besetzen. Nicht erst die „Debüt“-Reihe im Ersten lässt das sträflich schwache Kinofilmprogramm plötzlich erblühen, wer will, der kann mit den „Erotischen Phantasien“ vergessen, dass der brave Mainzelmann Sex für eine ansteckende Krankheit hält. So viel zum Einkauf der Sommerware. Das wahre Pfund steckt in den eigenproduzierten Reportagen und Dokumentationen, die ins Programm schießen. Bei den Dokus trifft das Fernsehen nicht nur auf die Wirklichkeit, es holt sie in das Fernsehen. Siehe Dienstag: Weder Maischberger in der ARD noch Kerner im Zweiten. Das Erste zeigt „Wiedersehen in Böhmen – Zwei Lebenswege“. Eine Jüdin flieht 1938 vor den deutschen Besatzern aus dem böhmischen Reichenberg, eine Deutsche wird 1946 aus dem nun tschechischen Liberec vertrieben, in dem die Jüdin erneut ihre Heimat findet. Es kommt zu einer Begegnung, die Kamera ist dabei. Das ZDF startet die Dokureihe „Nicht von schlechten Eltern – wie Familie sich wandelt“. Beiden Sendungen haftet nichts Sensationelles an, doch kommt das Leben in seiner wahren Form ins Bild. Die Reportagen und Dokumentationen in diesen Sommerwochen sind keine Regelsendungen. Es sind Unikate an nicht gelernten Sendeplätzen. Sie springen die Zuschauer nicht an. Fernsehen wird wieder zur Wundertüte, in die das Publikum selbst hineingreifen muss.

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