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Krimi: Der "Tatort" im Porträt

Höchstens acht Minuten dauert es bis zur Leiche. Dabei geht es immer nur um Deutschland. So sehr, dass Didaktik Spannung ersetzt. Ab und zu. Und das alles seit 40 Jahren.

WAS MACHT IHN SO ERFOLGREICH?

Der Start war stolpernd. Zum Glück. Keine Marktforschung, kein Verwertungskonzept stand Pate. Zunächst war da nur die Idee von Gunther Witte. Anfangs wurde sie nicht einmal erörtert, dann musste alles schnell gehen. Was an Krimis in den einzelnen ARD-Sendern bereits fertig produziert war, wurde unter den Dachtitel „Tatort“ gestellt. So auch die erste Folge „Taxi nach Leipzig“, die am 29. November 1970 ausgestrahlt wurde, produziert vom NDR, mit Walter Richter als Kommissar Trimmel. Auch der Film war bereits fertiggestellt.

Beim „Tatort“ bewährt sich die föderale Struktur der ARD. Sie spiegelt die Vielfalt des Landes, weshalb das Verbrechen auch in der Nachbarschaft zu Hause ist: in Konstanz und Münster genauso wie in Frankfurt am Main oder Berlin. Aus den Regionen heraus kann sich das Gesamtkunstwerk ständig erneuern. Weil die Produktionen in der Regel anspruchsvoll sind, weil die besten Autoren, Regisseure und Schauspieler mitmachen, ist so in 40 Jahren eine spannende heimliche Soziologie der Bundesrepublik entstanden. Der „Tatort“ wurde zur Chronik der Alltagskultur und Ethnologie deutscher Befindlichkeit. Nachvollziehbar ist, wo jeweils die drängenden gesellschaftlichen Probleme angesiedelt wurden – sexueller Missbrauch, Drogen, Gewalt in der Schule, perspektivlose Jugendliche waren ebenso zu sehen wie die Russenmafia, Organhandel oder mangelnde Integration. Die Familie als Ort der Zerrüttung rückte in den Fokus. Am rasantesten aber war der Aufstieg der Frauen. 1989 übernahm erstmals eine ständige Kommissarin, Lena Odenthal (Ulrike Folkerts), die Aufgabe, entschieden die gute Ordnung wiederherzustellen. Seitdem ermitteln Frauen nicht nur gleichberechtigt, sondern oft klüger, härter, dominanter. Weil im Fiktionalen die gesellschaftliche Realität vorkommt, weil auf spannende Dramaturgie geachtet wird, weil die Ermittler die Probleme haben, die wir auch aus Arbeit und Privatleben kennen, sie also nur unter Mühen Recht und Gesetz Geltung verschaffen können, laden die Filme ein zur Identifikation. Darum ist der „Tatort“ so erfolgreich. Schwächer ist er immer dann, wenn die Soziologie nicht mehr Subtext ist, sondern aufdringlich wird, wenn Didaktik die Spannung ersetzt. Oft wird dann aber schnell gegengesteuert: Das absolute, nicht mehr begründbare, archaische Böse tritt auf. Sowohl Radio Bremen wie der Hessische Rundfunk haben da schon Tolles geleistet. Hochwertig muss er sein und ein echter Krimi – dann ist der „Tatort“ erfolgreich.

WER GUCKT „TATORT“?

Zuletzt sogar schon mal mehr als zehn Millionen Zuschauer. Das ist deutlich mehr als „Wetten, dass...?“ zurzeit erreicht. Dabei gibt es Unterschiede. Das Kommissars-Comedy-Duo (Axel Prahl und Jan-Josef Liefers) aus Münster ist sehr beliebt, ebenso die Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) aus Hannover, während der neue verdeckte Solo-Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) aus Hamburg für viele eine zu gewagte Figur ist. In den jeweiligen Regionen verfolgen die Zuschauer das Treiben „ihrer“ Kommissare überproportional zahlreich. Für viele aus der Generation der 45- bis 55-Jährigen gehört es zum Wochenendritual, sich sonntags zum „Tatort“ vor dem Fernseher zu versammeln. Hier funktioniert das Echtzeitfernsehen noch. Aber wie das Fernsehen generell hat auch der „Tatort“ ein Jugendproblem. Da brechen Zuschauer weg, bilden sich keine festen Sehgewohnheiten mehr aus.

WIE WICHTIG SIND DIE KOMMISSARE?

Sie halten alles zusammen. Sie sorgen für Identifikation. In der Regel muss die Rolle größer sein als der Fall. Hier sind auch die größten Veränderungen zu beobachten. Wer sich noch an Hauptkommissar Hans Georg Bülow (Heinz Drache), Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) – den ersten Geschiedenen – oder Edgar Brinkmann mit der ewigen Fliege (Karl-Heinz von Hassel) erinnert, kann dies ermessen. Hierarchien sind gebrochen, Sticheleien spielen eine große Rolle – und immer wieder sind da die privaten Schwierigkeiten. Ein großflächiges Identifikationsangebot bietet diesbezüglich die stets überforderte Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), die dann im entscheidenden Moment doch alles schafft. Es gab große Schauspieler wie Oskar-Preisträger Christoph Waltz, dessen Kommissar Passini nur eine Folge lang Bestand hatte, und komische – selbst Diether Krebs gab für den NDR mal den Kommissar Nagel. Es gab Einzelgänger, Paare und sogar Trios. Es gab betuliche Beamte (Klaus Schwarzkopf) und lebenskluge Alte (Peter Sodann); Jochen Senf musste für den stets besonders darbenden Saarländischen Rundfunk als Max Palu auf dem Fahrrad ermitteln; Richy Müller wird im autofreundlichen Stuttgart wie ein Westentaschen-James-Bond inszeniert. Aber bis heute überstrahlt ein Kommissar sie alle und nur er brachte es auch zu Solo-Auskopplungen: Mit Horst Schimanski (Götz George) betrat die körperbetonte Arbeiterklasse die Szenerie. Nur wer Konventionen und Regeln bricht, vermag noch das Gute zu retten. Im harten Kerl steckt ein einfühlsamer Beschützer, ein Getriebener aber ist auch er. Die neuen Männer sind unsicherer. Axel Milberg als Borowski aus Kiel und jetzt auch Ulrich Tukur als Wiesbadener Ermittler Felix Murot, dessen Name ein Anagramm von Tumor ist, der ihm haselnussgroß im Kopf sitzt, zeigen neue männliche Sensibilität; während Sibel Kekilli und demnächst auch Sofia Milos aus der Schweiz starke Weiblichkeit verkörpern.

WIE FEIERT DIE ARD DAS JUBILÄUM?

Mit „Tatort“ Nummer 781 und einem neuen, dem mittlerweile 102. Ermittler Ulrich Tukur. Außerdem gab es bereits am Donnerstag ein „Tatort“-Quiz mit Frank Plasberg, das allerdings überraschend wenig mit den Krimis zu tun hatte, am Montag folgt dann noch „Beckmann“ mit einer Spezialausgabe zum Thema. Leider ist es nicht gelungen, innerhalb des „Tatort“-Formats selber etwas ganz Ungewöhnliches – etwa ein die Regionen übergreifendes Treffen der Kommissare; einen außerordentlichen internationalen Fall oder ähnliches – in Szene zu setzen. Die ARD bleibt also dabei, risikoarm auf Bewährtes zu setzen.

WORAN ERKENNT MAN DEN MÖRDER?

Im „Tatort“ gibt es feste Regeln. Fanclubs und Spezialisten kennen sie alle. Nur acht Minuten darf es maximal dauern bis zur ersten Leiche. Wer Mercedes fährt, gehört zu den Guten. Lena Odenthal darf zu Hause die Treppe nie ganz herunter gehen, weil die Kulisse vorher aufhört. Im Kühlhaus werden die Leichen immer aus den unteren Schubladen gezogen, weil die oben nur Attrappe sind. Wenn in einem der „Tatorte“, die womöglich noch aus einem der kleineren ARD-Sender stammen, ein besonders prominenter und folglich teurer Gaststar auftritt, dann ist das in der Regel auch der Mörder.

WAS GAB ES AN KURIOSITÄTEN?

„Gib dem Kaninchen eine Möhre extra. Es hat uns das Leben gerettet. Tschüss.“ Dieser Satz ist legendär. Berti Vogts, der ehemalige Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, hatte ihn aufzusagen. „Du Schwein. Wir wollten heiraten!“, schleuderte Dieter Bohlen als „richtiger“ Schauspieler, der aber so aussah, als hätte sich Olli Dittrich als Zuhälter verkleidet, Schimanskis Kumpel Christian Thanner entgegen. Kurioses gab es also immer wieder. Einmal wurde ein Tennisspieler, der aussehen sollte wie Boris Becker, entführt. Demnächst darf Theo Zwanziger, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) mitmachen. Hübsch ist es besonders, wenn diese Auftritte so hölzern sind wie eben der von Berti Vogts. Damit übertreiben sollten es die „Tatort“-Redakteure aber lieber nicht.

WAS WAR DER BESTE, WAS DER SCHLECHTESTE „TATORT“?

„Frau Bu lacht“ von Dominik Graf aus dem Jahr 1995 ist sicher immer noch einer der besten „Tatort“ aller Zeiten. Aber natürlich gab es viele gute. Richtig schlecht sind die Folgen meist, wenn die gute Absicht aufdringlich vorgetragen wird oder der „Tatort“ gar zu Reklamezwecken missbraucht wird. Richtig furchtbar war es, als zu Beginn dieses Jahres die Kölner Kommissare zum „Klassentreffen“, so der Titel der Folge, nach Essen aufbrechen mussten, um für die Kulturhauptstadt 2010 Werbung zu machen. Bitte nie wieder! Demnächst geht es in Hannover um Homophobie im Profi-Fußball und der Auftritt des DFB-Chefs Theo Zwanziger soll die Frauenfußball-WM fördern. Da ist Schlimmes zu befürchten!

GIBT ES EINE GEFAHR FÜR DEN TATORT?

Nicht nur eine. Es kann sein, dass der „Tatort“ doch ein Generationenprojekt bleibt. Aber gefährlicher noch ist die Inflation des Genres wie des „Tatort“ selber. Alles ist heute Krimi – viele werden billig produziert, Plots wiederholen sich, Dialoge erstarren. Vierhundert Mal im Jahr ist ein „Tatort“ zu sehen. Im Dritten und im Ersten werden alte Folgen wiederholt. Immer wieder wird dieselbe Zitrone ausgepresst. Inflation aber heißt Entwertung – das ist die größte Gefahr.

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