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KRITISCH gesehen: Tief durchatmen

Zwei Mal Joachim Gauck: Der frisch gewählte Bundespräsident stellte sich am Sonntagabend in ARD und ZDF den ersten Interviews im neuen Amt. Und machte klar, dass man mit ihm nicht einfach eine Themenliste abhaken kann.

Der neue Bundespräsident im „Bericht aus Berlin“ (ARD) und „Was nun, Herr Gauck?“ (ZDF). Direkt nach der Wahl von Joachim Gauck zum neuen Bundespräsidenten hatten Ulrich Deppendorf und Bettina Schausten Bundeskanzlerin Angela Merkel noch zusammen interviewt, am Abend gingen ARD und ZDF wieder getrennte Wege. Als erste durften Ulrich Deppendorf und Thomas Baumann im ARD-„Bericht aus Berlin“ erfahren, dass mit Joachim Gauck ein anderer Politikertyp vor dem Mikrofon sitzt. Ein Bundespräsident, der menschlich enttäuscht sein kann, wenn seine Verdienste als Bürgerrechtler in Rostock trotz evidenter Fakten nicht richtig gewürdigt werden, der es nicht mag, wenn seine Aussagen wie die zur Occupy-Bewegung von Journalisten aus dem Zusammenhang gerissen oder im Internet verkürzt dargestellt werden und der sich nicht dazu hinreißen lässt, mehr zu sagen als er will – jedenfalls nicht vor seiner Rede am Freitag vor dem Bundestag. Ob er eine Initiative zur Änderung des Ehrensolds anstoßen werde, werde er ganz sicher nicht heute Abend sagen, „ich weiß ja nicht einmal, wie mein Verdienst sein wird“. Der ehemalige Pastor Joachim Gauck betrachtet Politiker auch von der menschlichen Seite, wenn er Angela Merkel in die Augen tief schaut und dort keinen Grund für Misstrauen sieht, aber genauso sagt, „ich bin „Realo und kann mir Parteizwänge ausrechnen“.

„Was nun, Herr Gauck?“ fragten wenig später Bettina Schausten und Peter Frey im Zweiten und bekamen auf viele ähnliche Fragen die vergleichbaren Antworten. Aber auch höchst überraschende Repliken, denn für Gauck ist es in einer freiheitlichen Demokratie ganz normal, wenn mit Vuvuzelas gegen den Zapfenstreich eines Bundespräsidenten demonstriert wird. Wo sich Frey und Schausten an Fragen zu Enttäuschungen über Stimmenthaltungen, dem Verhältnis zu Angela Merkel, der politischen Dominanz ostdeutscher Evangelikalen und dem Zustand des Bundespräsidentenamtes abarbeiten, ringt Joachim Gauck darum, seine eigenen Worte zu finden, statt mit festgelegten Stanzen zu antworten. „Vielleicht müssen wir als Bevölkerung toleranter mit Spitzenpolitikern sein“, sagt der Mann aus dem Volk, der nun an der Spitze des Landes steht, und empfiehlt nach dem Wulff-Debakel, einmal ganz tief durchzuatmen. Den Journalisten von ARD und ZDF war dies allerdings an diesem Tag nicht möglich. Kurt Sagatz

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