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Medien: Lenk! mich! ab!

Der Körper schaut mit: Warum die Menschen trotz aller guten Vorsätze nicht anders können als fernzusehen

Die meisten Freuden des Lebens werden durch Gewöhnung fader, so dass man immer weniger Zeit damit verbringt. Nur das Fernsehen scheint von dieser Nivellierung ausgenommen. Obwohl es längst zum „Nullmedium“ (Hans Magnus Enzensberger) degenerierte, in dem man ruhelos mit der Fernbedienung herumzappt, rangieren die Einschaltquoten ungebremst auf Rekordniveau. Auch Wissenschaftler rätseln jetzt darüber, wie die „Droge im Wohnzimmer“ diesen hypnotischen Sog erzeugt.

Bei Intellektuellen gehört es seit eh und je zum guten Ton, über das Fernsehen zu lästern – über miese Programme, ständige Wiederholungen und über die „Vidiotie“, die das Medium bei Kindern und Jugendlichen auslöst. Dennoch kann das Publikum nicht von der Flimmerkiste lassen. Ganz im Gegenteil: Wir verbringen mehr Zeit vor der Glotze als je zuvor. Über drei Stunden täglich schauen die Deutschen durchschnittlich fern, so die Bestandsaufnahme von „Media Control“. Vor 20 Jahren hatten wir schon nach 147 Minuten die Nase voll. Der TV-Konsum belegt heute fast genau so viel Zeit mit Beschlag, wie alle anderen Aktivitäten zusammen – ausgenommen Arbeiten und Schlafen. Das bedeutet in Zahlen, dass wir im Laufe unseres Lebens etwa zehn Jahre vor dem Fernseher sitzen, anstatt uns Zeit zu nehmen für Familie, Freunde und Hobbys oder ein gutes Buch.

Der Abstumpfungseffekt, den auch die akademische Medienforschung ursprünglich kommen sah, ist wider Erwarten ausgeblieben, gibt Wolfgang Peiser vom Institut für Publizistik an der Universität Mainz zu bedenken. Reize, die emotionale Reaktionen auslösen, verlieren für gewöhnlich durch Wiederholung ihren Erregungswert. Die „Habituation“ dezimiert so unterschiedliche Dinge wie die Freude an neuen Besitztümern und die Koitusfrequenz in frischen Partnerschaften. Doch das Fernsehen hat seine Anziehungskraft nicht eingebüßt: Obwohl der Status des „Besonderen“ verblasste, gingen die Einschaltquoten überall weiter hoch. Nur in der Bewertung durch das Publikum hat das Medium nach einer amerikanischen Umfrage abgebaut.

Zum Teil wird der Verfall der Reizwirkung durch gesteigertes Reizbombardement ausgeglichen: Immer mehr Sender, das Niederreißen der Schamgrenzen, ein künstlich aufgeputschter Inszenierungsstil. Doch beim Publikum entsteht zunehmend der Eindruck, es werde mit „geistigem Kaugummi“ abgefüllt, behaupten die beiden US-Psychologen Robert Kubey und Mihaly Csikszentmihalyi: Fast die Hälfte hat bereits Schuldgefühle wegen zu langen Glotzens, nicht wenige fühlen sich nach ihrer TV-Überdosis ausgelaugt.

Da stellt sich die Frage, warum der Couch Potato trotzdem vor der Röhre kleben bleibt. Die Mattscheibe soll als „Fenster zur Welt“ fungieren, das uns höchst bequem und im Instant-Verfahren mit sonst unerreichbaren Menschen, Orten und Vorkommnissen in Verbindung setzt. „Fernsehen trifft ein tief liegendes, atavistisches Bedürfnis nach Heimkommen und angeschlossen sein“, sagt der Wiener Trendforscher Matthias Horx. „An etwas Größeres, an eine Sphäre des Öffentlichen, die sich vielleicht in Urzeiten, als die Menschen in Sippen durch die Savannen zogen, entwickelte.“ Wer heimkam von der langen Reise, wollte nicht Probleme wälzen, sondern dem neuesten Klatsch und Tratsch der Sippe lauschen.

Nach Ansicht von Dolf Zillmann, Medienforscher an der University of Pennsylvania, nutzen wir den Bilderstrom aus dem Äther unbewusst, um unseren Stimmungshaushalt zu regulieren. Der Organismus ist bestrebt, positive Zustände zu erhalten und negative abzubauen. Je nachdem, welche Sendung man sich zu Gemüte führt, kann man den Erregungsgrad seines Nervensystems steigern oder schwächen. Dass der Medien-Normalverbraucher sich dieses Weck- und Dämpfpotential zunutze macht, um unliebsamen Schwankungen seines Aktivierungsniveaus entgegenzusteuern, konnte Zillmann mit einer Serie von Experimenten zeigen.

Einmal lullte er seine Probanden systematisch ein, indem er ihnen nervtötend monotone Aufgaben stellte, dann versetzte er sie durch aufwühlende Stress- Aufgaben in Aufruhr. In einer „Pause“konnten sie sich sodann mit einem Fernsehangebot die Wartezeit vertreiben, das sich aus drei aufregenden und drei eher besinnlichen Streifen zusammensetzte. Fazit: Die gelangweilten Probanden suchten sich durchgehend die TV-Stimulantien heraus, wohingegen sich die aufgedrehte Gegengruppe ebenso systematisch mit den filmischen Beruhigungsmitteln „dopte“. Bei dieser „Selbstmedikation“ schossen beide Parteien sogar leicht über das Ziel hinaus: Die zuvor Erschöpften erschienen nachher überdurchschnittlich angeregt, die vorher Aufgewühlten hingegen leicht unterstimuliert.

Sogar depressive Gefühlszustände sprechen auf die therapeutische „Selbstberieselung“ an. Davon zeugt eindrucksvoll die Filmauswahl der Zillmannschen Versuchspersonen, die durch den Bluff, sie hätten bei einem geistigen Leistungstest fürchterlich schlecht abgeschnitten, am Boden zerstört waren. Im Gegensatz zu ihren Mitteilnehmern, denen ein vorzügliches Abschneiden vorgegaukelt worden war, stürzten sie sich in der Pause geradezu auf Humor und Comedy. Personen, die gerade Krisen und schwierige Zeiten durchlebten, standen per se verstärkt auf televisionäre Heiterkeit.

Selbst die Drüsenfunktion hat Einfluss auf die Wahl des Fernsehgenres. An den „Tagen vor den Tagen“ erleiden viele Frauen ein hormonell bedingtes Stimmungstief. Da müssten ihnen aufmunternde Stoffe gelegen kommen. Tatsächlich bevorzugten weibliche Probanden in der prämenstruellen Phase Komödien. In der Mitte des Zyklus hatten sie dagegen fast gar nichts für Lustiges übrig; während dieses Hormon-Highs waren sie vielmehr gierig auf ernste Dramen.

Allerdings genehmigen sich die meisten Zuschauer auch Programminhalte, die weder entspannen noch aufmuntern und keine direkte Beziehung zur Gemütslage haben, kritisiert der amerikanische Psychologe Steven J. Heine den Ansatz. „Wenn sie ohne gezielte Absicht durch das Angebot zappen und bei der erstbesten Sendung hängen bleiben, die irgendwie ihre Aufmerksamkeit fesselt.“ Dieser Effekt macht laut Heine den eigentlichen Sirenengesang der Röhre aus: Die Ablenkung der Aufmerksamkeit von uns selbst!

Wenn sich der Lichtkegel des Bewusstseins auf unser Ego richtet, tritt oft ein belastender und aversiver Geisteszustand ein. Im Zuge der „objektiven Selbstaufmerksamkeit“ werden wir nun einmal intensiv der niederschmetternden Kluft gewahr, die sich zwischen unserem wirklichen Sein und den nie ganz erfüllbaren Ansprüchen auftut, denen wir uns verpflichtet fühlen. Dadurch entsteht der Wunsch, Selbstvergessenheit zu trinken, den das Fernsehen durch seine Aufmerksamkeit heischende Gestaltung besonders gut erfüllen kann.

Den Beweis hat der Forscher mit einer Serie von Experimenten geliefert. In einem gaben die Teilnehmer Auskunft über ihre Selbsteinschätzung – entweder vor oder nach dem Konsum neutraler TV-Programme. Fazit: Nach dem Betrachten beliebiger Sendungen sahen die Probanden eine kleinere Kluft zwischen Selbst und Selbstideal. Ein andermal bekamen die Probanden bei einem getürkten Intelligenztest entweder einen Super-IQ oder ein geistiges Armutszeugnis vorgegaukelt. Quintessenz: Das schlechte Ergebnis schürte bei den Betreffenden das Bedürfnis, sich wahllos vorm Bildschirm „zuzuknallen“.

„Die Leute nutzen das Fernsehen als Stimulus, um sich von den Sorgen und Missständen abzulenken, die ihnen gerade im Kopf herumgehen.“ Die Metapher vom „Opium fürs Volk“ will Heine aber trotzdem nicht gelten lassen. „Man braucht solche Dinge, um das Leben in der heutigen Gesellschaft durchzustehen. Wir sind mit einem Berg von Informationen und Ansprüchen auf uns alleine gestellt und benötigen diese Zerstreuung, um uns abzulenken.“

Rolf Degen

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