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Medien-Kritik: Das kalte Herz des Internet

Wo schreckliches Schicksal zum Onlinegeschäft wird. Eine Polemik von "Cicero"-Chefredakteur Michael Naumann. Anlass: die interaktive Grafik zu 9/11 auf der Spiegel-Website.

Die Welle der publizistischen „Nine Eleven“-Dokumentationen auf allen öffentlichen Kanälen und journalistischen Podien liegt hinter uns, doch eine ragte heraus: Wenige Tage vor dem zehnten Jahrestag des Anschlags auf New Yorks World Trade Center stellte der „Spiegel“ auf seine Website ein Luftbild der beiden Hochhäuser vor dem Einsturz. Kleine schwarze Embleme, Lautsprecher und Filmkameras, luden den Betrachter dazu ein, mit einem Mausklick die Tonaufnahmen von drei Notrufen anzuhören: Eine Stewardess, die in größter Konzentration die mörderischen Ereignisse in der Businessklasse des Flugs von Boston nach Los Angeles schildert – drei ihrer Kollegen waren von den Al-Qaida-Terroristen erstochen worden, das Cockpit war verschlossen. Die entführte Boeing krachte wenige Minuten später in einen der beiden Türme in Manhattan. Ende der Aufnahme.

Zwei weitere Telefonate dokumentieren die panischen Todesängste einer Frau und eines Mannes, die in höchst verzweifelten Gesprächen mit New Yorks Notrufzentrale immer wieder um Hilfe flehen. Die Frau droht zu ersticken oder zu verbrennen, der Mann stirbt wenig später im Kollaps des Gebäudes. Auch diese Telefonate brechen plötzlich ab. Beide Anrufer kommen um. Die letzten Worte des Mannes sind ein entsetztes „Oh God!“, als einer der Türme über ihm zusammenkracht.

Die Gesprächsaufzeichnungen dienen nicht der Erinnerung daran, dass an jenem Tag fast 3000 Menschen ums Leben kamen, sondern der Website-Einschaltquote. Sie sind die konkrete Ergänzung der abstrakten, millionenfach über Youtube verbreiteten Einsturzszenarios, deren ikonografische Wucht den Komponisten Karlheinz Stockhausen und den Maler Damien Hirst damals zu der bizarren Behauptung verleitete, hier sei „moderne Kunst“ zu betrachten. Die bereits historische Ferne des Anschlags verwandelt sich in den mitgeschnittenen Telefonaten in eine unerträgliche Nähe, die uns allerdings fragen lässt, ob Todesangst und Verzweiflung in den letzten Minuten eines Lebens nun auch zu Verwertungsobjekten eines technisch versierten Popjournalismus geworden sind.

Die Website mitsamt ihrem akustisch-voyeuristischen Angebot ist das Zeugnis eines Sensationsjournalismus, der jede Spur von Anstand, Mitgefühl und Demut verloren hat. Eine schriftliche Dokumentation der Gespräche – und es gibt sie gewiss anderswo – hätte womöglich noch jene innere Distanz des Lesers zum schrecklichen Ereignis hergestellt, eine Distanz, die den Hilfesuchenden in den letzten Minuten ihres Lebens eine Ahnung von Menschenwürde gewähren würde. So aber erleben wir, dass die weltweite Internetverluderung unter dem Deckmantel der Sachinformation in die Plattform eines Nachrichtenmagazins eingezogen ist, das sich einst als „Sturmgeschütz der Demokratie“ verstand und inzwischen genau das vertont, was in Hollywoods obszönem Untergrund einst als „Snuff Movies“ gehandelt wurde: Filmaufnahmen vom realen, gewalttätigen Sterben unschuldiger Menschen.

Warum der "Spiegel"-Ableger mit seiner Entgleisung selbst die etablierten Boulevardmedien übertrifft, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Der Skandal der britischen Murdoch-Presse – hemmungs- und gesetzlose Reporter des inzwischen eingestellten Massenblatts „News of the World“ hatten Telefonate von Prominenten, Politikern, von den Eltern eines Mordopfers, auch von Hinterbliebenen gefallener Soldaten des Irakkriegs abgehört –, dieser Skandal mag den traditionellen Gossenjournalismus in Großbritannien zur Besinnung gerufen haben. Gemessen an den vulgären Gepflogenheiten von Fleet Street wirkt die „Bild“-Zeitung inzwischen wie ein katholisches Sonntagsblatt.

Doch hinter jener Entgleisung des „Spiegel“-Ablegers verbirgt sich ein neues Phänomen, das nach dem vielfach gefilmten, seither millionenfach im Web verbreiteten Anschlag von New York offenkundig wird. Da ist zum einen die Videorealität des Internets, das in seiner Katastrophenabteilung (Autounfälle, motorisierte Verbrecherjagden, Flugzeugabstürze, Feuersbrünste und Überschwemmungen) die Gazettentradition der vergangenen zwei Jahrhunderte mit modernen Mitteln fortführt. Sie vermittelt dem neugierigen Zuschauer das wohlige Gefühl, Gott sei Dank verschont worden zu sein: Zwischen Schadenfreude und Mitgefühl, zwischen Erbarmen und Erbarmungslosigkeit verfließen dabei die Grenzen. Fremdes Internetunglück verweist nicht mehr auf die Sterblichkeit des Menschen, sondern verstärkt die Wonnen der Gemütlichkeit vor dem Laptop: „Wir sind noch einmal davongekommen.“ Hungerkatastrophen, Tsunamis – so wunderbar nah, so herrlich fern. So wird schreckliches Schicksal zum reproduzierbaren Onlinegenuss.

Hinzu kommt die gestiegene Reizschwelle eines abgebrühten Publikums, die nur mit immer gröberen visuellen und akustischen Schocks überwunden werden kann und aus kommerziellen Gründen überwunden werden muss; denn die anhaltende Aufmerksamkeit des Zuschauers mit Fernbedienung oder PC- Maus ist die Währung der Werbe- und Anzeigenindustrie. Jeder Internetklick zählt.

Seit zehn Jahren schon begleitet uns der Zusammensturz der beiden Türme von New York bei jeder Gelegenheit, die sich TV-Regisseuren und Fernsehjournalisten bietet, diese Symbole des Terrorismus einzublenden: Die Folgen des Verbrechens von New York und Washington mitsamt ihren fatalen politischen Verwerfungen, ihren Kriegen und Folterskandalen verblassen vor der ästhetisierten Dauerhaftigkeit der ewig aufs Neue in die Wolkenkratzer rasenden Flugzeuge, der immer wieder feurig aufplatzenden Fassaden. Das Unglaubliche wird zur optischen Banalität, eine Art Popmovie, losgelöst von Ursache und Wirkung, ein Effekt um seiner selbst willen. Und jetzt auch noch mit unerhörter Tonspur nebst deutschen Untertiteln auf Spiegel-Online: Eisige Kälte definiert das Geschäft.

Michael Naumann ist Chefredakteur der Monatszeitschrift „Cicero“.

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