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Revival und Hochamt: Das „Literarische Quartett“ zum Schiller-Jahr

Beim Jingle des „Literarischen Quartetts“, dem letzten Satz aus Beethovens Streichquartett op. 59 Nr. 3, strahlt der 85-jährige Marcel Reich-Ranicki über das ganze Gesicht. Als der Literaturconferencier seine Gäste vorstellt: „Es nehmen teil wie üblich ...“ – da hat er schon die ersten Lacher. Aber die Lacher sind nicht ganz frei von Wehmut. Ende 2002 lief die letzte Folge der erfolgreichsten Literatursendung im deutschen Fernsehen, die 1988 das erste Mal im ZDF ausgestrahlt wurde.

Die Sondersendung des „Literarischen Quartetts“ zum Schillerjahr ist ein Revival, keine Reunion. Sigrid Löffler fehlt immer noch. 2000 schied sie nach einem Streit über Sexismus aus der Sendung, mit den Worten: „Ich verabschiede mich von diesem wüsten Spektakel.“ Für die letzten zwei Jahre hat „Zeit“-Redakteurin Iris Radisch ihren Platz eingenommen, die ihrer Vorgängerin an kritischer Emotionalität das Wasser reichen konnte, weniger aber in Sachen Feminismus. Diese Funktion übernahm beim gestrigen Schiller-Quartett unaufdringlich Literaturnachwuchspäpstin Elke Heidenreich, die „Verkörperung des Lesens im ZDF“ (so Reich-Ranicki galant, aber nicht ohne Unterton).

Springer-Autor Hellmuth Karasek, in der Aufwärmphase reizend mit Frau Heidenreich zu seiner Linken flirtend, ist „wie üblich“ der zweite Anwalt literaturkritischer Jovialität. Ist MRR’s Reverenz an seine legitime Nachfolgerin als Pontifex der Literaturvermittlung auch Respekt zu zollen – viele vermissten die versöhnliche Geste gegenüber Sigrid Löffler, die dem Literaturbetrieb im 200. Todesjahr des Nationaldichters und im ersten Jahr des deutschen Papstes sicher gut getan hätte, und vor dem überlebensgroßen Schiller-Pappkameraden im historistischen Säulensaal des Kurhauses Wiesbaden bestimmt auch gut ausgesehen hätte.

Zeremonienmeister Reich-Ranicki fragt zu Beginn des Schillers Dramen gewidmeten Quartett-Hochamts erst einmal in die Runde, wie man erstmals „mit Schiller in Kontakt“ gekommen sei. Karasek erinnert sich eines Schulaufsatzes zu „Wilhelm Tell“, dessen Genialität der Lehrer offenbar verkannt hatte, indem dieser das Tell-Zitat an den Rand schrieb: „Und allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen.“ Elke Heidenreich sei bereits im Mutterleib mit Schiller-Rezitationen traktiert worden und deutet an, dass sie das außerordentlich geschätzt habe. ReichRanickis Initiationserlebnis sei gewesen, wie er mit zwölf Jahren eine Theaterkarte für „Wilhelm Tell“ geschenkt bekam. Iris Radisch bekennt sich zu ihrer 70er-Jahre-Schulzeit: Schiller sei nicht vorgekommen, weil man im Deutschunterricht, immer nur die Verhältnisse kritisierend, „Bild“-Zeitungsartikel und Beipackzettel analysiert habe. Erst im Germanistik-Studium habe sie Schillers philosophische Prosa gelesen, weil die ja auch etwas mit Adorno zu tun hätte.

Zuerst ist der „Don Carlos“ dran. Für Karasek ist der Marquis von Posa ein Funktionär der Revolution. Schiller verurteile die Inquisition, wisse aber von deren Notwendigkeit, er sei zutiefst pessimistisch. Im Gegenteil, er sei durch und durch optimistisch, unterbricht Heidenreich ... Die Vier haben im Durchgang durch „Don Carlos“, „Wallenstein“ und „Kabale und Liebe“ das alte Quartett-Schema perfekt drauf. Aber dennoch hatte das Ganze hat etwas von Alterswerk, etwas Zurückgenommenes. Adorno – Iris Radisch zu Ehren – hätte gesagt: In einer auffahrenden Geste wird der Schein der Fernsehunterhaltung abgeworfen. Hat Wallenstein etwas von Hamlet? Wie funktionieren die Shakespeare-Bezüge Schillers? Die Antworten bleiben diffus, aber wollten sie nur einen Tick präziser sein, wäre man im germanistischen Kolloquium. Wallenstein sei ein Intellektueller wie Hamlet (Karasek), nö, sagt Heidenreich, Hamlet sei kein Intellektueller, sondern ein Trottel gewesen, eigentlich alles paletti im Staate Dänemark, und dann kommt dieser Trottel aus Wittenberg und reißt alle in den Tod.

Jetzt müssten die mitgebrachten Schillerausgaben gewälzt werden. Das ist dem Zuschauer nicht zuzumuten, denken die Fernsehredakteure. Aber ist das wirklich so? Wäre das nicht interessant, auch im Fernsehen? Vermisst man nicht die diskursive und kontroverse, unterhaltsame, aber analytische Auseinandersetzung mit Literatur auf einem vernünftigen Sendeplatz? So gut Heidenreichs Sendung funktioniert, letztlich verkörpert sie nicht das Lesen, sondern ein Lesen, sie verkörpert ein entschiedenes „Die Literatur bin ich!“. Das mag einer gewissen irrationalen Grundstimmung im Zeitalter der Wiederkehr des Religiösen entsprechen, in der man sich gerne von einem Guru die Welt erklären lässt.

Nachdem Marcel Reich-Ranicki seinen Abschluss-Segen, der abgeklärten Stimmung entsprechend, etwas abwandelt („Wir sind betroffen und sehen den Vorhang zu“ – bei Brecht heißt es: „Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen“): Standing Ovations für die vier Kritiker und ein literarisches Fernsehformat, mit dem es hoffentlich bald ein Wiedersehen geben wird.

Marius Meller

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