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Mobilisierung: Von der Facebook-Party zur Revolution

Party, Mob und Rebellion: Soziale Netzwerke mobilisieren. Aber wie funktioniert das? Wo beginnt der Hype? Und wie kommt er aus dem Netz auf die Straße?

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Schon am Hauptbahnhof sind sie Hunderte: Junge Leute mit Sixpacks unter dem Arm, laut, fröhlich, manche verkleidet. Auf dem Weg mit der Hochbahn in den sonst so ruhigen Hamburger Vorort Bramfeld skandieren sie: „Wir wollen Thessa sehen.“ Thessa, die an diesem sagenumwobenen Tag Anfang Juni ihren 16. Geburtstag feiern wollte, ist da schon bei Oma untergetaucht. Zuvor hatte sie die Einladung zu ihrer Party auf Facebook versehentlich dem ganzen Netzwerk zugänglich gemacht – 1500 der weltweit über 600 Millionen Nutzer kamen. Einige Wochen später musste die Polizei eine Spontanparty in Wuppertal auflösen. Auch hier hatten sich Jugendliche über ein soziales Netzwerk verabredet. Kurz darauf folgte die Meldung über eine geplante Massenparty mit 50 000 Teilnehmern in Bochum. In wenigen Wochen könnte Hamburg gleich die nächste „Facebook-Party“ bevorstehen. Unbekannte haben zu einer promillesatten Rundtour auf der Ringlinie U3 aufgerufen, aus Protest gegen das geplante Alkoholverbot in den Zügen des Hamburger Verkehrsverbunds. 16 000 sollen sich auf Facebook angemeldet haben – bis das Unternehmen die Einladung löschte.

Das Netz macht Masse. Scheinbar auf Knopfdruck lassen sich große Menschenmengen an einem Ort versammeln, einfach, indem man eine Nachricht in einem sozialen Netzwerk auf den Weg bringt, wo sie von Freund zu Freund weitergereicht wird. Ein Kettenbrief, nur kostenlos und erbarmungslos schnell. Was in Spanien und in der arabischen Welt politische Massenproteste, ja Revolutionen beförderte, ist in Deutschland nun Instrument der Hedonisten. Ein kleiner Impuls, eingespeist in das große, amorphe Ganze, entwickelte eine Wucht, die selbst die Impulsgeber überrascht. „Der harte Kern bestand aus rund zwanzig Personen“, schreibt die tunesische Bloggerin und Aktivistin Lina Ben Mhenni in ihrem kleinen Buch „Vernetzt euch“ und erzählt, wie diese kleine Gruppe über Skype und Facebook zum 22. Mai 2010 zu einer Demonstration aufrief – und Tausende auf die Straßen der Innenstadt von Tunis brachte.

Nicht zuletzt das Unberechenbare dieser Mobilisierungskraft hat Wissenschaftler dazu geführt, Netzwerken eine Art Eigenleben zuzuschreiben. Das amerikanische Autorenduo Nicholas Christakis und James Fowler, ein Mediziner und ein Politologe, beschreiben soziale Netzwerke aller Art in ihrem Buch „Connected – Die Macht sozialer Netzwerke“, das im Oktober auf Deutsch erscheint, als „Superorganismus“. Sie meinen damit auch solche Netzwerke, die noch ohne digitale Kommunikationsverbindungen auskommen. Aus ihrer Sicht sind es nicht nur Informationen, die sich über soziale Verbindungen zwischen Menschen verbreiten. Auch Eigenschaften und Einstellungen könnten sich so vermehren. Sie zeichnen nach, wie sich Gefühle, Schwangerschaften, das Sterberisiko oder die Bereitschaft zu spenden in sozialen Netzen ausbreiten. Der soziale Mensch, so die These, imitiert nun einmal das Verhalten seiner Mitmenschen. Gleichzeitig kann der so entstehende „Superorganismus“ auch mehr leisten als der Einzelne: „So, wie das Gehirn Dinge tun kann, die ein einzelnes Neuron nicht tun kann“, wie Fowler und Christakis schreiben. Zum Beispiel eine Regierung zu Fall bringen. Oder eine Hamburger Gartensiedlung ins Chaos stürzen.

Doch wie genau verlaufen die Informationsströme im Netz? Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Breiten sich die Informationsströme so gleichmäßig aus wie eine Lawine? Oder gibt es auch hier – wie im Gehirn – bestimmte Knotenpunkte? „Die Vorstellung, dass auf Twitter alle gleich sind, ist ziemlich naiv“, sagt Andreas Jungherr. Der Politologe an der Uni Bamberg untersucht gemeinsam mit seinem Kollegen Pascal Jürgens aus Mainz die Verbreitung von politischen Twitterbotschaften. Als Datenbasis dient der Austausch zwischen politisch interessierten Nutzern des Kurznachrichtendienstes im Vorfeld der letzten Bundestagswahl (siehe Grafik unten links). In einem Netz, so die Nachwuchswissenschaftler, sind nie alle mit allen verbunden. Netze bestehen vielmehr aus vielen kleinen Welten, die lediglich durch schmale Stege miteinander verknüpft sind. Einige besonders gut vernetzte Akteure dominieren den Informationsfluss. „Diese Brücken sind nicht neutral“, sagt Jungherr, im Gegenteil: Einige wenige wählen aus, welche Nachricht weitergeleitet wird – und an wen.

Wer diese „Türsteher“ sind, kann wiederum einem stetigen Wandel unterworfen sein. „In den meisten Netzgemeinschaften gibt es eigentlich keine Autoritäten und keine Hierarchien“, sagt Mary Joyce. Die Amerikanerin organisierte in Obamas Wahlkampf 2008 die Kommunikation über Neue Medien. „Es gibt nur Leute, die vorübergehend Einfluss ausüben, ihn aber auch wieder verlieren können.“

Indes: Selbst, wenn die Informationen es an den „Türstehern“ vorbei schaffen und in die Peripherien all der kleinen Welten vordringen, die das Netz konstituieren, bleibt die Frage: Wie schafft es ein Aufruf aus dem Netz auf die Straße? Wieso mobilisierte Thessas Partyeinladung ebenso erfolgreich wie die Facebook-Aufrufe zu „Tagen des Zorns“ während der arabischen Revolutionen? Und wieso versagte die Facebook-Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ beim Versuch, ihre zahlreichen Anhänger für deutschlandweite Pro-Guttenberg-Demonstrationen zu aktivieren? Fragen, die sich nur schwer beantworten lassen, auch, weil es – etwa im Fall der arabischen Revolutionen – schlicht noch keine empirische Forschung zum Zusammenhang zwischen Aktivität im und außerhalb des Internets gibt, wie Cilya Harders, Leiterin der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients am Otto-Suhr-Institut, sagt: „Alles, was wir zu diesem Zeitpunkt sagen können, ist, dass Facebook ein Medium ist, das es möglich macht, viele Menschen in kurzer Zeit zu erreichen.“ Dass dies Protesten und ihrer Entwicklung eine neue Qualität gebe, auch im historischen Vergleich, sei klar. Nicht aber, wie genau so etwas ablaufe.

Was den Begriff der „Facebook“-Revolution angeht, gibt Harders sich dann auch skeptisch: „Das scheint mir deutlich zu weit gegriffen. Was die Menschen bewegt hat, waren die unerträglichen Lebensbedingungen unter bestimmten Diktatoren. Was die Diktatoren zum Abtreten bewegt hat, war die Massenmobilisierung auf den Straßen. Facebook und Co hatten da nur eine Relaisfunktion. Die entscheidende Schlacht in Ägypten haben die Muslimbrüder gemeinsam mit Fußball-Ultras und Jugendgruppen geschlagen – nicht im Netz, sondern auf dem Tahrir-Platz.“ Die emotionalen Grundlagen für diese Allianz seien über Jahre gewachsen – in der Zeit vor Facebook und Twitter. In der Kernphase des Protestes habe dann auch wieder ein anderes Medium entscheidende Funktion übernommen: das Satellitenfernsehen, namentlich der Sender Al-Dschasira.

Ist das Internet also nur ein Funktionsträger unter vielen? Einer, der das in Zweifel zieht, ist Peter Kruse, Psychologe, Berater und weißbärtiges Faktotum der deutschen Netzwerktheorie. „Das Internet kann nichts bewegen, was nicht als Resonanzfeld in der Gesellschaft da ist“, sagt auch er, betont jedoch sogleich, dass ein soziales Online-Netzwerk „nicht irgendein Werkzeug“ sei. Wenn Kruse vom Internet spricht, spricht er gerne von den „Aufschaukelungsprozessen“, die dieses Medium ermögliche. Er nennt dafür drei Gründe: eine hohe Vernetzungsdichte, eine große Zahl spontan aktiver Teilnehmer und die Möglichkeit für „kreisende Erregungen“, etwa über Retweet- oder Likefunktionen. „Durch diese Eigenart können sich Netzwerksysteme in diese aufbrausenden Zustände begeben und bestimmte Prozesse anstoßen oder erheblich beschleunigen.“ Das könne ein Kind bei Youtube sein, das so lacht, dass man mitlachen muss. Im Fall der Facebook-Partys sei es vor allem das Sichberauschen an einer Organisationsmöglichkeit, der die Behörden noch nicht gewachsen seien. „Jugend spürt, dass es um ein Neuaushandeln von Macht geht in dieser Gesellschaft. Bevor sich das in qualitativen Sachen äußert, äußert es sich bei uns erst mal in so alltagsnahen Witzigkeiten.“

Dass im Facebook-Zeitalter zwar die arabischen Revolutionäre, nicht aber die Anhänger Karl-Theodor zu Guttenbergs massenhaft auf die Straße gingen, überrascht weder Kruse noch Mary Joyce. Letztlich müsse jedes der vielen Mitglieder in einem Netzwerk eine individuelle Entscheidung treffen, sagt die Online-Mobilisierungsexpertin. „Dabei spielen zwei Faktoren eine Rolle: Wie hoch ist der Anreiz? Und wie hoch ist das Risiko?“ In Ägypten und Tunesien war das Risiko hoch, aber eben auch der Anreiz. Bei den Facebook-Partys ist der Anreiz eher niedrig, aber eben auch das Risiko. Und Guttenberg? „Guttenberg ist ein zu geringer identitätsstiftender Faktor“, meint Kruse. „Bloße Sympathie reicht nicht aus, die Aktivierungsschwelle für das Leben außerhalb des Netzes zu überschreiten.“

Für die Protagonisten scheint der Fall klar: Ohne die Netzwerke wären bestimmte Dinge gar nicht erst passiert, wie auch immer sie eben passiert sein mögen. „Früher hätte man nicht einfach so solche Massen bewegen können“, sagt ein junger Brillenträger einem Kamerateam in der vollgepackten S-Bahn nach Hamburg-Bramfeld, auf dem Weg zu Thessas Geburtstag. Auch die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni ist sich sicher: Ohne Facebook wäre alles anders gekommen – nicht nur für die arabische Welt, sondern auch für sie persönlich. „Das Netz überwindet sämtliche Schranken, Zäune und Mauern, Verbote und Grenzen, Parteizugehörigkeiten und sogar individuelle Hemmungen“, schreibt sie. „Hemmungen – wie in meinem Fall die Schüchternheit.“

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