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Nach Sarrazin-Interview: Liebe in kannibalistischen Zeiten

Die Intellektuellen-Zeitschrift „Lettre International“ hat großen Erfolg mit einem Sarrazin-Interview. Trotz gestiegener Verkaufszahlen sind die Macher mit der ungewohnten Berühmtheit nicht nur glücklich.

Von Anna Sauerbrey

In der „Bild“-Zeitung heißt es nur noch das „Pöbel-Interview“. Dieser Begriff ist in der „Bild“-Welt zur Chiffre geworden für ein Gespräch, das Thilo Sarrazin mit der Zeitschrift „Lettre International“ geführt hat. Der ehemalige Berliner Finanzsenator äußert sich in einer Weise über die Hauptstadt und die Migranten, die manche als Skandal empfanden, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden zum Beispiel und die Berliner SPD.

Das Interview steht in einer aus Anlass des 20. Jahrestages des Mauerfalls erschienenen Sonderausgabe des „Lettre International“, die die Macher als eine „Liebeserklärung an Berlin in kannibalistischer Zärtlichkeit“ verstanden wissen wollen. Das würde Sarrazin sicher auch so sagen, wenn er denn so schön formulieren könnte. Hat er aber nicht. Und so fand sich mit den Rüpeleien über arabische Gemüsehändler auch „Lettre International“ plötzlich auf den ersten Seiten der Tageszeitungen wieder. Dabei sind Skandalgeschrei und Pöbeleien eigentlich ganz und gar nicht das Geschäft des viermal im Jahr erscheinenden Intellektuellenmagazins mit dem Untertitel „Zeitschrift für Weltbürger“.

Zumindest finanziell hat sich die flüchtige Boulevardberühmtheit aber ausgezahlt. 16 000 bis 18 000 Hefte verkauft „Lettre International“ normalerweise. Dieses Mal wird das wohl anders sein. Frank Berberich, Gründer und Leitender Redakteur, geht davon aus, dass möglicherweise 10 000 Exemplare zusätzlich verkauft werden.

Während die Einnahmen willkommen sein dürften, scheint die Art und Fülle der medialen Aufmerksamkeit den Machern eher ein Ärgernis zu sein. Lieber trägt man leise und wohlformuliert bei zum öffentlichen Diskurs, präsentiert sich einer kleinen, aber feinen Leserschaft. Nun fühlt man sich missverstanden. „Wir haben mit diesem Hype nichts zu tun“, sagt der Gründer, der Skandal sei weder erhofft noch erwartet noch provoziert worden.

Tatsächlich ist das Sarrazin-Interview nur ein kleiner Teil eines wie immer ästhetisch anspruchsvollen Gesamtkunstwerks, verbannt auf die Seite 197. Zum Mauerfalljubiläum wollte die Redaktion die Hauptstadt „auf der Couch“ aus gewohnt globaler und abstrakter Perspektive analysieren. Das Heft sei „eine multiperspektivische, kubistische Versuchsanordnung“, sagt Berberich. Es gelte, die „Selbstmythologisierung Berlins“ zu hinterfragen und dazu beizutragen, dass die Stadt etwas von ihrem „selbstgefälligen Größenwahn“ verliere.

Die Leserschaft des „Lettre“ scheint das zu erkennen und lässt sich laut Berberich vom ungewohnt deftigen Exkurs auf den hinteren Seiten nicht schrecken. Eine sehr berührte Lichtenberger Lehrerin sei sogar persönlich in die Redaktion gekommen, um ihren Dank auszusprechen für die deutlichen Worte, die der Ex-Senator gefunden habe, berichtet der Leitende Redakteur. Auch er selbst sieht Sarrazins Beitrag eben als einen unter vielen im gesellschaftlichen Diskurs: „Wir müssen Multiperspektivität ertragen.“ Im nächsten Heft, das Anfang Dezember erscheint, werde man die ungewohnt regionale Perspektive verlassen und sich wieder den wahren Weltbürgern zuwenden, in Berlin und anderswo.

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