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Medien: Nathalie sucht die Freiheit

Im TV-Drama „Delphinsommer“ rebelliert eine junge Frau gegen eine Sekte

Früher nannte man es Subkultur, heute spricht man von Parallelgesellschaften; während die Subkultur als Phänomen unterhalb der Leitkultur gedacht war, existiert die Parallelgesellschaft auf gleicher Höhe. Das bedeutet: Sie macht sich ihre Gesetze selbst und schert sich wenig um den Rest der Welt. Sie versteht sich als autonom. So geht es zum Beispiel in religiösen Sekten zu. Sie locken mit Geborgenheit und verlangen als Preis die persönliche Freiheit.

Im Film „Delphinsommer“ heißt die Sekte „Kirche des Herrn“, der Oberpriester Herr Wagner oder auch Bruder Gregor, und die frohe Botschaft geht so: Wer erlöst werden will, der verzichte auf alle Annehmlichkeiten des modernen Lebens und unterwerfe sich den rigiden Regularien der Glaubensgemeinschaft. Nicht nur Schrift-Auslegungen und ethische Grundsätze unterliegen dem Urteil durch die Gemeinde, auch die Lebensführung des Einzelnen wird streng kontrolliert. Wer ausschert und zum Beispiel ins Kino geht, wird mit Gewalt auf Linie gebracht. Manche Erwachsene mögen sich und ihr Seelenheil in einem derart repressiven Klima gut aufgehoben fühlen. Und die Kinder, solange sie noch klein sind, beugen sich dem obersten Gesetz, das da heißt: Gehorche!, meist noch mehr oder weniger bereitwillig. Was aber passiert, wenn die jungen Sektenmitglieder, die nie jemand gefragt hat, ob sie beitreten wollen, erwachsen werden? Wenn die 15-jährige Tochter Lust hat, das Haar offen zu tragen und – horribile dictu – mit einem Jungen zu plaudern?

Regine Bielefeld (Buch) und Jobst Christian Oetzmann (Regie) haben in „Delphinsommer“ eine überzeugende dramatische Antwort gefunden; sie bleiben perspektivisch ganz bei ihrer Heldin, der jungen Nathalie, bei deren anfänglich noch kindlicher Loyalität zu den Eltern und zur „Kirche des Herrn“, bei den ersten Zweifeln, als ein Mitschüler in ihren Lebenskreis eintritt, für den sie mehr empfindet als Sympathie, bei ihrer Auflehnung gegen das starre Reglement der Glaubensgenossen und bei ihrem Ausbruchsversuch. Unter Verzicht auf grelle Effekte offenbart der Film die verborgene und die manifeste Gewalt, zu der autoritäre Parallelgesellschaften greifen müssen, wenn die Freiheit der profanen Welt ihre jugendlichen Mitglieder auf neue Wege lockt. „Delphinsommer“ lässt frösteln in seiner Konsequenz, aber der Film öffnet das eine oder andere Fenster mit freundlicher Aussicht – nicht alle Sektenmitglieder sind so stark in ihrem Glauben an die Hierarchie, dass sie für die Sicherheit ihrer kleinen, vermeintlich reinen Welt Menschenopfer bringen wollen.

Drei junge Schauspieltalente – Anna Maria Mühe als Nathalie, Sophie Rogall als Gegenspielerin Sibille und Tino Mewes als Mitschüler Gabriel – verblüffen durch außergewöhnliche Präsenz. Sie spielen sich in die Herzen der Zuschauer, setzen sich dort fest und gewinnen gegen die Köpfe der Zuschauer, die manchmal Protest anmelden. Der Film ist nicht perfekt, am Buch gäbe es einiges auszusetzen. So verläuft Nathalies Entwicklung vom bibelfesten Töchterchen zur couragierten Rebellin allzu jäh – gerade die Übergänge hätte man gestalten sollen, sie fehlen weitgehend.

Aber das Drama eines Mädchens, das um die Freiheit ringt, sich ihrer Jugend zu freuen, wird so bestürzend und so anrührend vorgeführt, dass man keine Minute versäumen möchte. Sowas gibt es also noch, mitten unter uns im aufgeklärten dritten Jahrtausend, ein Mädchen, das eingesperrt wird, nur weil es tanzen möchte? Wenn man die Sekte als Chiffre nimmt für alle Formen vormoderner Familien und Zwangsgemeinschaften, gibt es das sogar ziemlich häufig.

„Delphinsommer“: Mittwoch, ARD 20 Uhr 15

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