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Öffentlich schreiben: Die digitale Dekade? Eine Replik auf Sascha Lobo

Gegen den Zynismus der Twitterati: Der Literaturwissenschaftler Tobias Boes antwortet auf Sascha Lobo und seinen Essay "Die digitale Dekade", der zu Silvester im Tagesspiegel erschien.

Der Journalist und Werbetexter Sascha Lobo hat im Tagesspiegel rechtzeitig zu Silvester 2009 einen Artikel veröffentlicht, in dem er behauptet, das zu Ende gehende Jahrzehnt würde sich nicht wie alle vorherigen in das kollektive Gedächtnis einprägen, weil eben jenes Gedächtnis auf Grund von modernen Kommunikationstechnologien inzwischen hoffnungslos diffus sei.  Durch soziale Netzwerke und Echtzeit-Dienste wie Twitter hätte sich stattdessen ein „ständiger, mobil vernetzter Strom von persönlichen wie medialen Informationen“ entwickelt, der es jedem erlauben würde, seine eigene Perspektive auf das Weltgeschehen zu entwickeln und anderen Menschen auch mitzuteilen. Um diese These zu untermauern, hat Lobo seinen Artikel nicht im heimischen Wohnzimmer verfasst, sondern im Szene-Bistro Café Liebling, wo ihm tausende von „Freunden“ und „Anhängern“ in aller Welt dank Facebook, Twitter und dem Ortungsdienst Google Latitude beim Schreiben über die virtuelle Schulter schauen konnten.

Nun ist das Schreiben in öffentlichen Räumen – immer wieder unterbrochen durch Plausche mit anderen Personen aus dem eigenen Bekanntenkreis – gerade in Berlin nichts wirklich Neues. Auch zu Beginn des letzten Jahrhunderts sammelten sich an Orten wie dem Romanischen Café am Kurfürstendamm scharfzüngige Kritiker, um über die wechselseitige Beziehung zwischen Kultur und Technologie zu spekulieren und ihre Weltanschauung in Kolumnen und Artikeln zu Papier zu bringen. Was Journalisten wie Walter Benjamin, Egon Erwin Kisch oder Alfred Döblin allerdings von Sascha Lobo unterscheidet (außer dem glücklichen Umstand, dass sie ihre Mitteilungen nie auf 140 Zeichen und ein „TwitPic“ reduzieren mussten), ist, dass sie in der Hoffnung agierten, mit ihren Aufsätzen, die oftmals ebenfalls mediale und persönliche Informationen aufs Interessanteste kombinierten, mehr als nur eine neue Perspektive auf die „diffuse Wortwolke“ (Lobo) des Zeitgeistes zu eröffnen.  Sie wollten stattdessen aufklären, vielleicht sogar die Welt verändern.

Nun sind die Zeiten der Weimarer Republik zugegebenermaßen lange vorbei.  Ein etwas naheliegenderer Vergleich böte sich vielleicht mit den vielen Auslandskorrespondenten an, die die Bevölkerung in Deutschland und in anderen westlichen Industrienationen mit einem ständigen Strom von Nachrichten aus dem Irak, aus Afghanistan oder vom Horn von Afrika versorgen.  Auch diese Journalisten schreiben ihre Texte meist in öffentlichen Räumen und mit Hilfe der Echtzeit-Technologien des Internets – sie sitzen nur nicht so bequem wie im Café Liebling.  Und auch in ihren Artikeln werden mediale mit persönlichen Informationen verschmolzen, allerdings in der Hoffnung, damit die Zahl der möglichen Perspektiven auf das Weltgeschehen zu reduzieren, statt sie zu erhöhen. Wenn zum Beispiel aus Teheran über Twitter und YouTube einander widersprechende Informationen zum Verlauf der „grünen Revolution“ eintreffen, dann ist es die Aufgabe des verantwortungsbewussten Journalisten vor Ort, diese Informationen zu sondieren und an Hand des persönlichen Erfahrungsschatzes für die Leser und Zuschauer zu Hause kritisch zu kommentieren.  Es geht eben nicht um den Vorgang des „Egocasting,“ bei dem persönliche Meinungen ungefiltert in die Welt hinausposaunt werden, sondern um die Authenzität des Erlebnisses und um das Suchen nach einer Perspektive, die auf Grund ihrer inneren Schlüssigkeit und ihres weitreichenden Umfanges alle anderen Perspektiven in sich einzuschließen scheint.

Es ist, um einen etwas anderen Ansatz zu finden, schlicht und einfach zynisch zu behaupten, das vergangene Jahrzehnt werde sich nicht an Hand von wenigen Stichpunkten in das kollektive Gedächtnis eingraben.  Kaum eine andere Dekade der jüngeren Vergangenheit ist auf so eine überwältigende Art von einem einzigen Ereignis geprägt worden wie die Periode, auf die wir nun zurückblicken können.  Es waren natürlich die Terroranschläge des 11. September 2001, deren Folgen in Form von Kriegen, Morden und zunehmendem Hass in all seinen Spielarten tausende von Leben gekostet und die Weltanschauung nicht nur von Millionen, sondern sogar von Milliarden Menschen verändert haben. Die Kollision einer Boeing 767 der American Airlines mit dem Nordturm des World Trade Centers, der Einmarsch der Amerikaner im Irak, die Bilder von vermummten Gefangenen mit Elektrodrähten an den Fingerkuppen aus Abu-Ghuraib – all dies sind Eindrücke, die das kollektive Gedächtnis nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland, Indien oder in Südafrika auch dann noch auf lange Zeit bestimmen werden, wenn die von Lobo zitierten Stichworte früherer Jahrzehnte („Generation Golf“!) schon längst wieder vergessen worden sind. Sie haben die Welt synchronisiert, nicht zersplittert. Man muss sich schon ziemlich tief im eigenen Twitter-Feed vergraben haben, um das nicht mitzubekommen.

Auch ist es keineswegs wahr, dass die vergangenen zehn Jahre auf Grund der diffusen Begriffswolke der heutigen Zeit noch keinen Namen gefunden hätten. Zumindest im Englischen ist in den letzten Monaten der leider nur schwer zu übersetzende Begriff „the oughts“ immer populärer geworden. Dieser Name leitet sich nicht nur von einem etwas altertümlichen Wort für „null“ ab, sondern spielt auch auf eine Vielzahl von anderen Lexemen an, zum Beispiel auf das Hilfsverb „ought“ („we ought to have done“ = „wir hätten tun sollen), das Pronomen „aught“ („irgendetwas“) und das Nomen „naught“ („Nichts“). Enger bündeln kann man die Verzweiflung, die viele Menschen in aller Welt in den vergangenen zehn Jahren beschlichen hat, wohl kaum.

Als Gegenentwurf zu Lobo sei auf einen anderen Schriftsteller verwiesen, der vor siebzig Jahren ebenfalls in einem öffentlichen Café einen Rückblick auf ein zu Ende gehendes Jahrzehnt verfasste, für das er die auch heute noch oft zitierte Umschreibung „a low dishonest decade“ („eine gemeine, unehrliche Dekade“) fand. Auch W.H. Auden entdeckte den Schlüssel zu seinem Jahrzehnt, den Dreißigerjahren, in einem Ereignis, dessen „unaussprechlicher Todesgeruch / die Septembernacht verletzt“ („the unmentionable odour of death / offends the September night“): Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939. So manches an diesem Gedicht erscheint angesichts des Schreckens, der die Welt während der nächsten sechs Jahre überziehen sollte, heute kitschig.  Die letzte Strophe allerdings liest sich wie ein Kommentar darauf, was persönliche Stellungnahme im Zeitalter der unbestreitbaren Macht sozialer Echtzeit-Netzwerke bedeuten könnte, wenn es ihr nur gelänge, sich vom Zynismus der Twitterati zu befreien:

Defenceless under the night
Our world in stupor lies;
Yet, dotted everywhere,
Ironic points of light
Flash out wherever the Just
Exchange their messages:
May I, composed like them,
Of Eros and of dust,
Beleaguered by the same
Negation and despair,
Show an affirming flame.

Der Autor ist Assistenzprofessor für Germanistik an der University of Notre Dame in den USA.

Tobias Boes

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