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Medien: Rauchende Colts

Der Irakkrieg und andere Manipulationen – Wikipedia-Lexikon unter Druck

Lowell ist eine Kleinstadt im US-Bundesstaat Massachusetts mit etwas über 100 000 Bewohnern. Die Interessen der Bürger werden in Washington vom Demokraten Martin Meehan vertreten – seit fast 13 Jahren. Die kleine Zeitung der Stadt, die „Lowell Sun“, hat sich nun erinnert, dass Meehan 1992 verkündet hatte, er werde nicht an seinem Stuhl kleben, wenn es an der Zeit sei. „Ich werde nach acht Jahren im Amt aus dem Kongress ausscheiden“, hatte der Demokrat gesagt. So steht es inzwischen auch wieder im englischsprachigen Teil des freien Internet-Lexikons Wikipedia – nachdem Mitarbeiter von Meehans Stab diesen peinlichen Absatz zuvor entfernt hatten. Meehans Bürochef hatte das eigenmächtige Vorgehen gegenüber der Zeitung zugegeben. Seine Begründung: „Es erscheint mir sinnvoll, wenn die Biografie, die wir einreichen, auch die ist, die wir schreiben.“ „Du sollst nicht löschen“ erwiderte Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, doch der Einwurf wirkt hilflos. Wikipedia sieht sich nun erneut der Debatte über die Verlässlichkeit des freien Internet-Lexikons ausgesetzt.

Wie die Untersuchungen von Wikipedia ergaben, war Meehans Biografie nicht die einzige Senatorenvita, die von Angestellten der Politiker geschönt wurde. Missliebige Stellen wurden entfernt und durch positive Darstellungen ausgetauscht. Ins rechte Licht gerückt wurden so auch die Biografien von vier Senatoren aus Montana, Minnesota, Iowa und Delaware. Republikaner wie Demokraten blieben sich dabei nichts schuldig. Doch es wurde nicht nur geschönt, sondern auch angeschwärzt, wenn nicht gleich der gesamte Beitrag eines Konkurrenten komplett entfernt wurde. Dies war bei zwei Senatoren aus West Virginia und Oklahoma der Fall.

Bis vor kurzem galt Wikipedia als reine Erfolgsstory: In den fünf Jahren nach der Gründung von Wikipedia durch Jimmy Wales im Jahr 2001 ist es dem Lexikon und seinen hunderttausenden Helfern gelungen, das Wissen der Welt größtenteils abzubilden. Das Lexikon steht in über 200 Sprachen zur Verfügung und umfasst über drei Millionen Einträge, davon rund 900 000 in Englisch und fast 350 000 in deutscher Sprache. Selbst den Vergleich mit der Encyclopaedia Britannica muss das Lexikon nach einer Untersuchung des Wissenschaftsmagazins „Nature“ nicht scheuen. In dem Maße aber, in dem Wikipedia wächst, nehmen aber auch die Probleme zu. Ende 2005 wurde im deutschen Wikipedia-Teil der Schweizer Informatikprofessor Bertrand Meyer fälschlich für tot erklärt. Im englischen Teil war zuvor der US-Journalist John Seigenthaler beschuldigt worden, in das Attentat an US-Präsident John F. Kennedy verwickelt gewesen zu sein. Seither können im englischen Wikipedia neue Beiträge nur noch von registrierten Autoren eingestellt werden. Veränderungen sind aber nach wie vor durch anonyme Autoren möglich.

Wie die Untersuchungen ergaben, hatten die Manipulatoren nicht einmal vor geschichtlichen Fakten Halt gemacht. Im Artikel zur US-Invasion im Irak im Jahr 2003 wurden wichtige Passagen entfernt. In ihnen ging es um die von US-Präsident George W. Bush gezogene Verbindung zwischen den Anschlägen vom 11. September 2001, Al Qaida und dem irakischen Diktator Saddam Hussein, einer der Hauptgründe für den Irakfeldzug. „Ich habe zwar keinen rauchenden Colt oder konkrete Beweise gesehen, aber ich denke, die Möglichkeit für diese Verbindung hat bestanden“, hatte Ex-US-Verteidigungsminister Colin Powell im Januar 2004 gesagt. Auch dieser Satz fiel der externen Zensorschere zum Opfer, bis er – wie inzwischen auch Passagen in anderen Beiträgen – von den Wikipedia-Mitstreitern wieder ins Netz gehoben wurde.

Über 1000 Manipulationen an Einträgen soll es in den letzten sechs Monaten gegeben haben, die von Mitarbeitern der Kongressmitglieder vorgenommen wurden. Das konnte so genau herausgefunden werden, weil offenbar mangels Schuldbewusstsein kein allzu großer Wert auf Diskretion gelegt wurde. Sämtliche Veränderungen ließen sich durch die so genannten IP-Adressen zurückverfolgen – zum US-Repräsentantenhaus oder zum US-Senat. In der Folge sperrte Wikipedia den Zugriff über diese Adressen, hob die Sperre jedoch wieder auf, weil damit zugleich viele Wikipedia-Unterstützer ausgeschlossen wurden.

Fünf Jahre nach der Gründung steht Wikipedia am Scheideweg. Bleibt es beim reinen Freiwilligen-Modell oder wird es künftig auch bei Wikipedia eine Redaktion mit festangestellten Lektoren geben? Für die angekündigte gedruckte Wikipedia-Ausgabe in Deutsch ist diese Entscheidung bereits gefallen. Um den Qualitätsanforderungen an ein solches Werk zu genügen, werden beim Zenodot-Verlag 25 Redakteure die Beiträge auf deren Substanz abklopfen.

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