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Medien: Rudelbildung vor Leinwänden

Mit der WM wird Public Viewing Teil der Fernsehkultur und der Feierkultur

Das ist das Besondere und Einzigartige des Fernsehens: öffentliche Kommunikation wird privat. Claus Kleber kommt ins Wohnzimmer, Rudi Carrell spielt mit der Familie. Das Massenmedium wendet sich an Einzelne. Aus dem Kreis der Familie wird ein Halbkreis. Alle sitzen. Niemand schaut auf. Fernsehen sendet auf Augenhöhe. Es ruft nicht auf zur Versammlung, sondern zur Zerstreuung.

Soweit die Theorie. Bis gestern hat sie gestimmt. Jetzt ist alles anders. Fernsehen goes public. Rudelbildung statt Privatsphäre, das kollektive Zuschauen wird zum Event, zum Kerngeschehen einer Riesenparty, zum Gemeinschaftserlebnis unter freiem Himmel. Public Viewing verändert die Rolle des Fernsehens. Keiner spricht von Bildschirm, sondern von Großbildleinwänden. Alle, die drauf- schauen, verfolgen das Spielgeschehen nicht als private Personen, sondern als ausstaffierte Fans. Bewusst sind sie Teil einer Masse. Deswegen sind sie dorthin gegangen. Sie haben das Gefühl, dichter am Geschehen zu sein als zu Hause.

Wie in Deutschland üblich, reagieren auf das Neue zunächst die Vermesser der Welt. Das Phänomen entgleitet ihnen. Noch fehle ein präzises Messinstrumentarium, räumt die für die „Messung der Fernsehnutzung in privaten Haushalten“ zuständige Gesellschaft für Konsum-, Marktund Absatzforschung (GfK) ein.

Schon zum Gruppenspiel gegen Costa Rica hatte das ZDF eigens eine Forsa-Umfrage in Auftrag gegeben, die feststellte, rund zwölf Millionen Zuschauer wären aushäusig dabei gewesen. Diese Zahl müsse man auf die üblichen Quoten aufschlagen, meint auch ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz. Die 22,38 Millionen Zuschauer, die am Samstag für das Spiel gegen Schweden gemessen wurden – wegen der frühen Anstoßzeit knapp 1,5 Millionen weniger als beim Polen-Spiel – genügen nicht. Dabei lag der Marktanteil am Samstag schon bei der WM-Rekordmarke von 86,3 Prozent. Ohne Public Viewing.

Diese Form des gemeinsamen Schauens gibt es überall – ob in Aachen oder Zella-Mehlis, während die großen, oft kilometerlangen Fanmeilen insbesondere ein Phänomen der WM-Städte sind. Hier hat das Public Viewing seine Wurzel. Ursprünglich war es gedacht als Auffangbecken für die enttäuschten Fans, die keine Tickets haben. Es lebt von der Nähe zum Stadion, respektive dessen Simulation.

Dennoch gibt es Unterschiede. Im Stadion ist die Masse begrenzt. Ihre Energie konzentriert sich auf das Spielgeschehen. Es gibt einen Anfang und ein Ende. Die Spielzeit ist eine Auszeit vom Alltag. Alle haben ihrem Alltag den Rücken zugekehrt. Alle schauen in die Mitte und nach unten. Dennoch ist in den modernen Stadien auch Distanz möglich. Man kann sitzen, sich vom Nachbarn abgrenzen. Im Idealfall gelingt im Stadion der Zauber einer perfekten Interaktion zwischen Spielern und Fans. Diese spüren, wann die Akteure der Anfeuerung bedürfen. Sie versichern diesen ihren Rückhalt. Sie treiben sie an. Die Energie der Masse entlädt sich und wird produktiv. Am Ende gibt es stürmischen Applaus, alle stehen und die Spieler verneigen sich vor dem Publikum.

Auch vor der Großbildleinwand prägt das Spielgeschehen die Reaktion der Zuschauer. Bei Toren jubeln alle, bei gegnerischen Chancen ist kollektives Aufstöhnen zu vernehmen. Durch Kostümierung versichern sich alle ihrer Gemeinsamkeit. Trägt er Fahne und Farben, weist sich also aus als Fan, gehört auch der gegnerische Anhänger zur Gemeinde. Partyotismus hält den Patriotismus auf angenehmer Temperatur. Die Masse aber, die sich dicht am Spielgeschehen wähnt, kann nur reagieren. Anders als im Stadion, das sie nachahmt, kann die Masse mit ihrer Energie nicht produktiv werden. Alle stehen, schauen in eine Richtung, richten ihre Blicke nach oben. Die Masse bildet kein Rund. Viele Menschen schreien und jubeln nicht nur, sie trinken und schwitzen. Eine so dichte Masse kann unangenehm sein. Das große Gemeinsame ist das Schauen und Feiern. Es ist im Prinzip endlos, so wie die Masse unbegrenzt ist. An den Rändern franst sie aus. Sie kann sich von dem Anlass lösen und ist sich dann selbst genug. Darum kommen auch so viele, die überraschend wenig von Fußball verstehen. Sie treibt der Spaß zur Rudelbildung. So erinnert Public Viewing dann an Karneval, Christopher-StreetDay, Love Parade oder Weltjugendtag.

Da Spieler und Spielgeschehen als Interaktionspartner entfallen, wird das Fernsehen selbst zum Gegenüber. RTL sendet aus der Fanmeile, das ZDF hat sich eine eigene kleine Fanmeile gebaut und spricht zur großen hin. Die von ihm organisierten Massen dienen dem Fernsehen als Kulisse. Schalten ins Getümmel sind auf allen Kanälen beliebt. Sobald einer merkt, dass er im Fernsehen ist, will er nur noch eins: ganz und gar Fan sein, so wie es sich gehört. So wird das Fernsehen am Ende dann doch wieder selbstreferenziell. In großem Stil, aber messbar ist das nicht.

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