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Medien: Sars und die Hoffnung auf Pressefreiheit

Mit der Ausbreitung des Virus lockerte China sein Zensursystem. Doch schon gibt es wieder Anzeichen für einen Rückschritt

Eigentlich müsste Jiang Yanyong heute in einem Arbeitslager sitzen. Anfang April hatte der 72-jährige Arzt aus Peking einen Brief an chinesische und ausländische Medien geschickt. In dem Schreiben deckte Jiang als Erster die Vertuschung der Sars-Epidemie durch die Regierung auf. Er listete nicht nur Zahlen von infizierten Patienten auf, die bisher von den Behörden und den staatlichen Medien verschwiegen wurden. Er griff Pekings Führung an und bezichtigte den damaligen Gesundheitsminister Zhang Wenkang der Lüge. Ein Vergehen, das in China normalerweise ein polizeiliches Nachspiel hat. Doch zwei Wochen nach Jiangs Brandbrief machte Pekings Führung eine Kehrtwende: Minister Zhang und der Pekinger Bürgermeister Meng Xuenong verloren ihre Ämter. Damit waren das Tabu und die Zensur gebrochen. Die Medien, die über Wochen nur die Propagandatexte der Staatsagentur Xinhua nachdrucken durften, schickten ihre eigenen Reporter los. Zum ersten Mal erfuhren die Chinesen das wahre Ausmaß der Epidemie.

Für Chinas strenges Zensursystem ist dies eine kleine Revolution. Gerade bei Katastrophen und Ereignissen, die China in einem negativen Licht zeigen könnten, war in der Vergangenheit die staatliche Medienkontrolle am größten. Anders bei Sars: „Sars ist zu einem Thema geworden, das frei diskutiert werden kann“, schrieb die „Nachrichtenwoche“. Ministerpräsident Wen Jiabao erließ einen Regelkatalog bei Gefahren für die öffentliche Gesundheit. Unter Artikel 25 heißt es: Informationen über Gefahren müssten „zeitgemäß, akkurat und umfassend“ sein. Viele Journalisten und Akademiker fordern nun öffentlich eine grundsätzliche Lockerung der Zensurgesetze. In Chinas bäuerlichem Hinterland haben die Menschen bisher allerdings wenig von der neuen Freiheit mitbekommen. Die meisten lokalen Zeitungen und Rundfunkstationen dürfen bis heute nicht die wahren Sars-Zahlen melden. In den Redaktionen sitzen Kader der Provinzregierung oder Stadtverwaltung, die darüber wachen, dass nichts Negatives über ihre Behörden berichtet wird.

Wie eng die Grenzen der Meinungsfreiheit noch immer sind, bekam am Wochenende Huang Qi aus der südchinesischen Stadt Chongqing zu spüren. Weil er auf einer Webseite an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 erinnert hatte, wurde er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Zhang Tianwei von der „Jugendzeitung“ sagt, möglicherweise sei Sars nur eine Ausnahmesituation, nach der die Regierung wieder zu dem alten Kontrollsystem übergehe. Anzeichen gibt es. In den vergangenen Wochen ist die Berichterstattung über Sars wieder einheitlicher geworden. Fernsehen und Zeitungen müssen Ärzte und Krankenschwestern unter dem Titel „Engel in Weiß“ als neue Volkshelden feiern, Regierungspolitiker werden als „Frontkämpfer“ gegen Sars gelobt. Auch Jiang Yanyong ist Teil der Propaganda. Die „China Daily“ veröffentlichte am Dienstag einen Bericht über den Doktor mit der Überschrift „Sars Informant atmet erleichtert auf“. In dem Text werden die Erfolge der Regierung im Kampf gegen den Virus betont. Dass Chinas Medien die Warnrufe von Jiang ignoriert hatten, wird nicht erwähnt.

Harald Maass[Peking]

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