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Sascha Lobo: Weshalb meine Schuhgröße im Netz steht

Bloggen, twittern, social networking: Der Mensch will laut dem Blogger Sascha Lobo mehr sein als seine reale Existenz – er will eine digitale Persönlichkeit werden.

Cem Basman, ein türkisch-schwedischer Unternehmer aus Hamburg, hat ein sehr treffendes Motto für sein Blog, also sein privates Online-Magazin, gefunden: „Vogel fliegt. Fisch schwimmt. Ich blogge.“ In der Tat ist es zur Normalität geworden, sich im Internet darzustellen. Unter Schülern und Studenten findet sich kaum einer, der nicht Teil mindestens eines sozialen Netzwerks ist. Mehr und mehr Deutsche – viele Millionen wohlgemerkt – sind in Social Networks wie Wer-kennt-wen, Facebook oder StudiVZ organisiert, haben also ein Profil und präsentieren sich auf irgendeine Art im Netz, ob mit Bildern, kurzen Texten, Blogartikeln oder Links, die sie (und oft nur sie) interessant finden. Es lässt sich kaum leugnen: Wir sind zum Glück nicht mehr Papst, wir sind jetzt Netz. Die Menschen haben begonnen, wichtige Teile ihres gesellschaftlichen Treibens ins Internet zu verlagern. Unterhaltung, Information, Politik, Wirtschaft, Kommunikation, Arbeit, Kultur – in allen Bereichen der Gesellschaft wird das Netz relevanter und nimmt immer mehr Raum und Zeit ein, durchaus auch auf Kosten anderer Medienformen, wie etwa am aktuellen Zeitschriftensterben zu sehen ist.

Am deutlichsten zu erkennen ist die Entwicklung jedoch im Sozialleben; Social Networks tragen ihren Namen nicht zufällig. „Menschen interessieren Menschen“, diese alte Journalistenweisheit lässt sich auch und besonders im Internet anwenden – deshalb sind von den sechs meistgenutzten Online-Medienangeboten in Deutschland inzwischen fünf Social Networks. Aber was treibt die Leute quer durch alle sozialen Schichten, Altersstufen, Ausbildungsgrade dazu, sich im Netz zu präsentieren?

Klaus Siebenhaar, Direktor des Instituts für Kultur- und Medienmanagement an der Freien Universität Berlin, glaubt, es handele sich um ein flächiges Aufbranden des Narzissmus, vor allem die jüngere Generation betreffend. Jugend und Postadoleszenz drehten sich im Netz selbstverliebt um sich herum. Eine Ansicht, die auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen mag – aber netzweltfremd ist. Denn weder Eitelkeit noch übertriebene Selbstliebe sind die Ursache, sondern der Wunsch nach Persönlichkeitsbildung. Die meisten jungen Menschen können die starke Betonung der Trennung zwischen Internet und „realer Welt“ sowieso nicht nachvollziehen, für sie ist das Netz und was darin passiert längst ein Teil der realen Welt – ebenso, wie man auch ein Telefonat als echte Kommunikation empfinden kann. Nebenbei bemerkt: Gefühle für jemanden zu empfinden, den man noch nie persönlich gesehen hat, von dem man nur ein paar Bilder kennt und einige Dialogfetzen – das ist seit sehr langer Zeit vollkommen normal. In den Zeugenstand werden alle Männer gerufen, die in den 50er Jahren in Audrey Hepburn verliebt waren, also alle.

In einer Zivilgesellschaft möchten Menschen ihre Persönlichkeit ausdrücken, deshalb ist das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung im Grundgesetz verankert. Deshalb kleiden die Menschen sich auf eine bestimmte Weise, deshalb gibt es Frisuren und Friseure, deshalb gibt es hässliche Tätowierungen, deshalb kaufen Menschen wider besseres Wissen skandinavische Autos, deshalb drucken Unternehmen imposante Visitenkarten. Deshalb hat aber auch jeder einen persönlichen Sprach- und Kommunikationsstil entwickelt. Zu den Merkmalen einer Persönlichkeit gehört darüber hinaus ein ganzes Portfolio von nonverbalen Signalen wie Körpersprache, Mimik, Gestik. Der amerikanische Psychologe John Gottman hat eine Reihe von videogestützten Untersuchungen gemacht, in denen er das gesprochene Wort und eben jene nonverbalen Signale miteinander verglichen hat. Seine Ergebnisse legen den erstaunlichen Schluss nahe, dass nur eine kleine Rolle spielt, was Menschen zueinander sagen – eine wesentlich größere dagegen, wie und mit welcher Gestik und Mimik sie es zueinander sagen.

Wenn sich nun die Gesellschaft zur digitalen Gesellschaft wandelt und also soziale Funktionen wie Kommunikation ins Netz verlagert – dann brauchen die Menschen essenziell eine Online-Entsprechung zur nonverbalen Kommunikation. Schon, um das Gegenüber in den richtigen Kontext zu bringen, sowohl von der aktuellen Situation her wie auch für die soziale Einordnung. Eines der ersten Zeichen dieses Kontext-Bedürfnisses war die Entwicklung des Smileys als schriftliches Symbol einer ironisch gemeinten Bemerkung. Verständlich, denn ein hingeworfenes „Ja, klar“ kann je nach Betonung und Gesichtsausdruck auch das genaue Gegenteil bedeuten.

Inzwischen hat sich die Internetgesellschaft, die Webciety, so weit entwickelt, dass man mehr braucht als ein abgenutztes Ironiesymbol, um seine Absichten, seine Meinung, seine Gedanken und damit seine Persönlichkeit auszudrücken. Zumal die Persönlichkeit auch eine tages- und minutenaktuelle Seite in sich trägt, etwa die momentane Stimmung oder die allgemeine emotionale Verfassung. Der stetige Strom der verschiedensten Inhalte, die ins Netz gestellt werden, erfüllt diese Funktion. Sie zeigen der Außenwelt, in welchen Kontext man den Verfasser stellen muss. Das Design des eigenen Weblogs oder der Profilseite entspricht der Kleidung, mit der man vergleichbare soziale Signale sendet. Ein Microblog wie Twitter (eine Art Internet-SMS an alle) oder die Statusmeldung im Social Network entspricht der Mimik und Gestik. Das Profilbildchen entspricht der Frisur (und wird interessanterweise häufig mit ähnlicher Frequenz verändert).

Wenn man mit jemandem online kommuniziert, der keinerlei Persönlichkeit preisgibt, dann fühlt es sich an, als spräche man mit einer stimmverzerrten Person hinter dem Schutzvorhang bei „Stern TV“. Das kann ein paar Minuten lang ganz unterhaltsam sein, dürfte die sozialen Prozesse aber verkomplizieren oder unmöglich machen. In dem empfehlenswerten Buch „Blink“ führt Malcolm Gladwell aus, dass schon ein simples Profilbild in einer Online-Singlebörse die Chancen auf Kontaktaufnahme dramatisch erhöht. Sogar eine unattraktive Person mit wenig interessantem Lebenslauf, aber mit Profilbild wird in solchen Netzwerken häufiger kontaktiert als eine Person mit fantastischen sozialen Daten („Arzt, Millionär, humorvoll, kinder- und tierlieb“) ohne Foto.

Die Vielzahl der verschiedenen digitalen Schichten und Geschichten, die man jeden Tag aufs Neue im Netz hinterlässt, stellen unseren digitalen Teil der Persönlichkeit dar. Weil Persönlichkeit dort ausgedrückt werden möchte, wo Gesellschaft stattfindet. Mit anderen Worten hat es (zunächst) nichts mit eitlem Narzissmus zu tun, ständig persönliche Inhalte ins Netz zu stellen. Es handelt sich um eines der ältesten sozialen Bedürfnisse, nämlich die gesellschaftliche Selbstverortung – übertragen ins Zeitalter der Digitalen Gesellschaft.

Die weiterführende Frage könnte lauten, warum so viele Menschen zur Persönlichkeitsentfaltung nicht nur eine einzelne, persönliche Homepage ins Netz stellen, sondern sich mit wechselnder Intensität in vielen verschiedenen Netzwerken und Diensten darstellen. Ein Teil der Erklärung mag in der Struktur des Internets selbst zu finden sein, das alles andere als konsistent und gleichförmig ist, sondern ein unsymmetrisches, pulsierendes Digitalgewebe in ständiger Metamorphose, das bereits mit einem defekten Kabel eine einzelne Website in die Nichterreichbarkeit und damit Bedeutungslosigkeit versinken lassen kann. Wahrscheinlicher ist, dass es umgekehrt ist und die Strukturen, mit denen man seine Persönlichkeit im Netz darstellen kann, den Bedürfnissen der Menschen folgen. Das wiederum würde bedeuten: Der Mensch ist seine eigene ständige Betaversion; der Wunsch, sich auf Dutzende Arten und Weisen ständig zu wandeln, sich immer wieder neustartend, weiterentwickelt und redesignt selbst darzustellen, war schon immer tief im Menschen verborgen. Und erst das Internet, unser neuer goldener Gott, vermochte, diesen langgehegten sozialen Wunsch real werden zu lassen. Danke, Internet!

Der Autor, Jahrgang 1975, ist Autor, Blogger, Werber und derzeit der meistgelesene deutschsprachige Microblogger. Gemeinsam mit Kathrin Passig hat er zuletzt das Buch „Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin“, erschienen bei Rowohlt Berlin.

Sascha Lobo

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