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Unbekannte Seiten. Zusammen mit anderen Fernstudenten hat Lavinia Wilson in Berlin eine Philosophiegruppe gegründet. Millionen Fernsehzuschauer haben die Schauspielerin am vergangenen Dienstag in der Dokufiktion „2030 – Aufstand der Jungen“ gesehen. Foto:ZDF

© Reiner Bajo

Schauspielerin im Porträt: Indiana Jones aus Kreuzberg

Lavinia Wilson scheint auf den Typ fragile Frauen festgelegt - dabei wollte sie Urwaldforscherin werden. Warum sie nicht nur wegen ihres Ekels vor Regenwürmern Schauspielerin wurde.

Im Dezember war Lavinia Wilson in Argentinien. Drei Wochen fuhr sie mit ihrem Freund die Landwege entlang, aß Cracker und landete auf einer südamerikanischen Hippieranch. Dort fand sie den perfekten Ort: einen Fluss, steinig, kühl und klar wie ein Spiegelbild menschlicher Träume. „Aber“, fragt sie, „was soll ich denn da machen? Die brauchen ja keine deutschen Schauspieler. Ich bin viel zu pragmatisch, als dass ich darüber nachdenke, ob ich dort leben könnte.“

Lavinia Wilson wohnt in Berlin-Kreuzberg, und wenn man ihr glaubt, wird sie dort auch nie wieder wegziehen. Selbst, wenn sie im Moment gerade literweise Wasserflaschen in ihre Wohnung tragen muss, weil die Leitungen einen zu hohen Bleigehalt aufweisen. „Berlin ist die beste Stadt in Europa und Kreuzberg der beste Bezirk“, findet sie „ ich bin hier wahnsinnig glücklich.“ Sie sitzt in der „Markthalle“, eine Kreuzberger Kneipe, und trinkt Espresso. Sie trägt einen kurzen, grauen Rock, Pullover und einen schwarzroten Schal. Die Fingernägel sind bunt lackiert, die Ärmel hat sie hochgekrempelt. Sie weiß, was sie will, und sie redet auch so: offen und unverzagt. Man hätte sie anders, zurückhaltender, erwartet. Lavinia Wilson spielte bislang oft geheimnisvolle Frauen, fragile und flatterhafte. In „Allein“ kämpft sie mit dem Borderlinesyndrom, in dem Thriller „Ein Dorf sieht Mord“ tritt sie als rätselhafte Fotografin auf, und in dem österreichischen Spielfilm „Freigesprochen“ stürzt sie sich erst in eine Affäre und dann in den Tod. „Der zerbrechliche Frauentyp entspricht schon meinem Rollenprofil“, sagt sie, „umso mehr freue ich mich, wenn mir mal etwas anderes angeboten wird.“

Wie in der düsteren Dokufiktion „2030 – Aufstand der Jungen“, die gerade im ZDF lief. Darin spielt sie die Unternehmensberaterin Sophie Schäfer, bodenständig, karriereorientiert. Auf der Suche nach einem Freund, der auf mysteriöse Weise verschwunden ist, befragt sie Zeugen vor einer Fernsehkamera. Alles sollte sehr authentisch wirken. Nur ihre Frisur durfte utopisch anmuten: hoch drapierte Teufelszwirbel. „Ich habe viele Stunden im Kostüm und in der Maske verbracht“, sagt Lavinia Wilson. „Die Herausforderung der Dokufiktion war für mich eher technisch als emotional. Ich fand’s gut, mal so was machen zu dürfen, aber es muss nicht gleich wieder sein.“

Ihre Ehrlichkeit hat sie aus München mitgebracht. Dort wurde sie 1980 geboren, als Tochter eines amerikanischen Professors der Anthropologie und einer deutschen Politikwissenschaftlerin, ein „linksliberaler Haushalt“, wie sie sagt. Was ihre Eltern ihr beigebracht haben, ist, selbstständig zu denken. „Sie haben mich erzogen, skeptisch zu bleiben, dass ich nicht immer glauben soll, was mir vorgesetzt wird.“

Sie ist zweisprachig aufgewachsen, Deutsch konnte sie zuerst sprechen, Englisch zuerst verstehen. Ihr Vater unterrichtete amerikanische Soldaten, so hatte die Familie Zugang zum „Commissary“ – einem Laden, in dem es amerikanische Waren steuerfrei zu kaufen gibt. Sie trug Levis für acht Dollar, aß Truthahn zu Thanksgiving und fiel Weihnachten in einen klebrigen Himmel aus Marshmallows. Sie hat den blauen Pass, der sie über Rechte und Pflichten in den Vereinigten Staaten von Amerika aufklärt. Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 zog sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder für einen Monat zu Verwandten nach Louisiana, das war fast die längste Zeit, die sie dort verbracht hat. Bis zur vierten Klasse besuchte sie eine englischsprachige Grundschule, danach ging sie auf ein bayerisches Gymnasium. „Ich habe immer noch das Vokabular einer Viertklässlerin“, gesteht sie lachend, „aber ich komme super zurecht.“ Als sie vor zwei Jahren Barack Obama im Wahlkampf sagen hörte: „We - the american people“, saß sie vor dem Bildschirm und merkte: „Mensch, die meinen ja auch mich.“ Für sie war das komisch, überhaupt nicht greifbar, sagt sie. Die Kultur, von der ein Teil bei ihr zu Hause lebte, war nie ihr Zuhause gewesen. Sie hatte sich nie mit ihr identifiziert.

Lavinia Wilson ist 30 Jahre alt, fast zwei Drittel ihres Lebens steht sie vor der Kamera. Mit elf spielte sie die erste Rolle. Ihre Mutter arbeitete als Aufnahmeleiterin und lernte eine Agentin kennen, die sie für Sherry Horman’s Kinofilm „Leise Schatten“ besetzte. Mit 16 spielte sie in dem Debütfilm von Connie Walther „Das erste Mal“ eine Schülerin, die in Johnny Depp verliebt ist und sexuelle Erfahrungen sucht. Lavinia Wilson lebt davon, Leben zu spielen, die mit ihrem eigenen nicht viel zu tun haben. Schon früh sah man sie als junge Frau mit reifem Charme, dem alte Männer erliegen. Als Kühle im Minirock, mit dem Blick eines Rehs, dem man nicht widerstehen kann.

Sie scheint in den Filmen schnell erwachsen geworden zu sein. In Wirklichkeit aber erkennt man in ihr noch das Mädchen, das eigentlich mal Urwaldforscherin werden wollte, eine weibliche Indiana Jones. Klug und kämpferisch. Ihren Campingbus in Spanien hat sie verkauft, weil er 25 Liter Diesel verbrauchte. Vor neun Monaten, zu ihrem 30. Geburtstag, hat sie mit dem Rauchen aufgehört. Sie wollte den Zigarettenkonzernen nicht mehr länger das Geld in den Rachen schieben. Sie sagt, was sie denkt: „Es gibt viele Idioten auf der Welt. Egoisten, die meinen, sie müssten was Besonderes sein. Aber das ist totaler Quatsch. Jeder ist, was er ist, nur in Abgrenzung von anderen. Ohne die anderen Menschen sind wir gar nichts, eine arme kleine Wurst.“

Neben der Schauspielerei studiert Lavinia Wilson im 16. Semester Philosophie, als Teilzeitstudentin an der Fernuniversität Hagen. Sie hat alle Scheine abgegeben, die Nebenfächer Geschichte und Soziologie sind so gut wie abgeschlossen. Im nächsten Jahr will sie ihre Magisterarbeit schreiben, vielleicht über die Zeittheorie von Edmund Husserl. „Das ist etwas total Unpraktisches“, sagt sie, „weil es für die Zeit nie die perfekte Lösung gibt. Ein Komplex, über den man sich schön auslassen kann, weil er nie zu einem Ende findet.“ Wenn sie abends im Bett liegt, kann es passieren, dass sie nicht einschlafen kann. Sie findet den Schalter nicht, der ihre Gedanken ausknipst. Manchmal fängt sie an, über ihren Beruf nachzudenken. Darüber, dass er ganz schnell vorbei sein kann, viele seien schon von der Bildfläche verschwunden, sagt sie. Die Selbstzweifel, dass sie nicht gut genug spiele, gehören für sie zum unangenehmen Teil ihrer Arbeit.

Zusammen mit anderen Fernstudenten hat sie in Berlin eine Philosophiegruppe gegründet. Dort treffen sich Menschen, die normalerweise nichts miteinander zu tun haben: ein Manager, ein Immobilienmakler, eine Chemikerin, eine Hausfrau und Mutter, eine Frau, die im Sozialamt arbeitet. Einmal im Jahr machen sie zusammen eine philosophische Reise zu einem bestimmten Thema, sie waren schon in Kroatien und auf Ibiza. „Ihnen ist es völlig egal, dass ich Schauspielerin bin“, sagt Lavinia Wilson, „es geht darum, gemeinsam Zeit für ein Interesse zu verbringen. Ich lerne da Leute kennen, die ich sonst nie kennenlernen würde.“ Ihr Lieblingsphilosoph ist Ludwig Wittgenstein, einer der wenigen Philosophen, wie sie findet, der auch Humor hat. Sie hat gelernt, dass es im Leben keine absoluten Wahrheiten gibt, dass die Bedeutung in dem liegt, was wir daraus machen. Lavinia Wilson ekelt sich vor Regenwürmern, deshalb ist sie keine Urwaldforscherin geworden. Aber sie würde gern mal eine spielen.

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