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Die Zeit drängt, Nerven liegen blank. Reto Flückiger (Stefan Gubser) im Fußballtrikot und Liz Ritschard (Delia Mayer) im Abendkleid ermitteln nach einem Giftanschlag im Kultur- und Kongresszentrum Luzern.

© SRF/Hugofilm

Schweizer "Tatort": 90 Minuten ohne Schnitt, aber mit Brecht

Der Schweizer „Tatort“ will mit aller Mühe besonders sein – und überhebt sich dabei, alle Erzählstränge in einem allumfassenden Jetzt zu verknoten.

Mit einem Handlungserklärer und Bildern ohne Schnitt während eines dramatischen Benefizkonzerts versucht der neue Schweizer „Tatort: Die Musik stirbt zuletzt“ den Ruch alpenländischer Biederkeit abzuschütteln. Es geht um Eifersucht, die problematische Rolle mancher Eidgenossen während der NS-Judenverfolgung und den Starrsinn eines Patriarchen. Eine szenische Überanstrengung.

Grüezi wohl, hier ist Luzern. Der Schweizer „Tatort“ gibt sich alle Mühe. Er empfängt die deutschen Zuschauer mit ungewohnter helvetischer Mitteilungsfreudigkeit. Ein lockiger junger Mann namens Franky Loving (Andri Schenardi) spricht unerhörte Erkenntnisse in die Kamera: „Luzern – hier riecht die Schweiz wirklich noch nach Schweiz. Hier lebt man gesund, glücklich und teuer.“

Aber nicht langweilig, verspricht der mitspielende Krimierklärer, eine Figur aus dem Brechtschen Zeigestocktheater, die an wichtigen Stellen kommentiert, was man sieht, damit dem Zuschauer bewusst bleibt, dass er einem künstlich erzeugten „Tatort“ beiwohnt.

Allerdings: Die Gefahr, der Faszination des vorgeführten Geschehens zu erliegen, ist überschaubar. Der Beobachter der ersten Szenen hat Schwierigkeiten, sich im Kultur-und Kongresszentrum Luzern zurechtzufinden. Eine elegante, exklusive Festgesellschaft – sie soll zehntausend Franken je Karte berappt haben – feiert den millionenschweren 85-jährigen Mäzen Walter Loving (Hans Hollmann). Der gilt als Gutmensch, weil er zu Zeiten des Nationalsozialismus von der Schweiz aus Juden zur Flucht vor dem Zugriff der Nazis verholfen haben soll.

Selbstbeweihräucherung des Patriarchen

Aber schon das merkwürdige Verhalten des selbstgerechten Wohltäters verrät, dass etwas nicht stimmt mit dieser Feier. Zur Aufführung werden Werke jüdischer Komponisten gebracht, die im KZ umgebracht wurden. Es spielt zu Ehren des Milliardärs ein jüdisches Orchester aus Buenos Aires (dargestellt von dem Ensemble „Jewish Chamber Orchestra Munich“). Der Zorn und die Verzweiflung der zu hörenden Musik wollen nicht passen zu der Selbstbeweihräucherung des Patriarchen, der verkündet, eine viel jüngere Frau (Uygar Tamer) heiraten zu wollen, um sich seine letzten Lebensjahre zu versüßen. Und dem egal ist, seine Ex-Frau (Sibylle Canonica) sowie seinen Sohn Franky, der die schöne junge Frau ebenfalls liebt, zu kränken.

Bald wird klar, dass der jüdische Drehbuchautor und Regisseur dieses „Tatorts", Dani Levy („Alles auf Zucker“), einen Kampf zwischen der Lüge des wirklichen Lebens und der Wahrheit der Musik aufführen wird. Ausgerechnet das Kultur- und Kongresszentrum Luzern wird für eineinhalb Stunden eine „Tatort“-Bühne des Schreckens mit Mord und Lüge. Die zornigen Töne der Ermordeten wecken das Böse auf. All der Weihrauch, den sich der Stifter zur Verdeckung seiner Schuld wünscht, all das Brimborium der Hochkultur verdeckt Schuld nicht.

Der Klarinettist Vincent Goldstein (Patrick Elias) bricht während des Konzerts zusammen. Wie sich herausstellt, hat jemand das Mundstück seines Instruments vergiftet. Wir sehen, wie Ärzte ihn hinter der Bühne gerade noch vor dem Erstickungstod retten können. Hinter dem Anschlag steht eine dunkle Geschichte, die mit Eltern und Großeltern des jüdischen Musikers und dessen Schwester, der Pianistin Miriam Goldstein (Teresa Harder), zu tun hat. Die Eltern der Musiker forderten Geld von Retter Loving zurück, weil er nicht verhindern konnte, dass Vincents und Miriams Großeltern dem Vergasungstod entkamen und Loving trotzdem eine hohe Rettungsprämie kassiert hatte.

Öffentliche Rache am Retter

Die Tochter der Ermordeten wollte nach dem Krieg gerichtlich gegen Loving vorgehen, starb aber kurz vor dem Prozessbeginn unter mysteriösen Umständen. Vincent und Miriam, Mitglieder des an diesem Abend musizierenden Orchesters, wollten sich während der Galaaufführung an dem Retter öffentlich rächen.

Auf dem Feld der Liebe gibt es weitere mörderische Attacken – aus einem besonnten Lebensabend eines Greises wird nichts. Die Weisheit des Stückeerklärers endet mit dessen unbesiegbarer Wut. Musik tröstet nicht.

Warum sich Levy für eine filmische Erzählweise entschieden hat, die alle Erzählstränge verknäult, als würde sich alles in einem imaginären, allumfassenden Jetzt zusammenknoten lassen, ist nicht wirklich zu verstehen. Da ist viel Künstlichkeit im Spiel. So sitzt die Schweizer Kommissarin Liz Ritschad (Delia Mayer) wie zufällig im Abendkleid und ohne Dienstausweis im Publikum. Ihr Kollege Reto Flückiger (Stefan Gubser) wird vom Fußballplatz zum Einsatz gerufen und stolpert in Fan-Kluft durch die Verwirrung im Konzertsaal, wo die Kamera (Filip Zumbrunn) versucht, die Szenen zu verbinden, als gäbe es kein größeres Übel als den Schnitt.

Nein, „Die Musik stirbt zuletzt“ hat nicht, wie die „Bild“ insinuierte, das Potenzial, schlechtester „Tatort“ aller Zeiten zu werden. Aber wunderlich wirken seine Kamerakunstspielereien, die mit allen Tricks den Sprung aus der Gegenwart nicht wagen wollen. Der Zuschauer fragt sich, warum das Schicksal verfolgter Juden nicht einen eigenen Film mit einer eigenen Zeitebene wert sein sollte. Sind wir alle wirklich so heuteversessen?

„Tatort: Die Musik stirbt zuletzt“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 15

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