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Kommissar Karow (Mark Waschke, rechts) sucht das Vertrauen von Werner L. Harbinger (Christoph Bach) zu gewinnen.

© rbb/Gordon Muehle

„Tatort“ aus Berlin: Wo Wahn auf U-Bahn trifft

„Dein Name sei Harbinger“: Der Berliner „Tatort“ führt in eine Geburtenklinik und zeigt einen Eigenbrötler im Psycho-Rausch.

Reden wir vom Gelingen. Durch Berlins geheimnisvolle Orte wie einem Heizverteiler am Tempelhofer Feld oder einem früheren Eisenwerk in Wittenau bekommt der „Tatort: Dein Name sei Harbinger“ ein weitverzweigtes Bewegungsnetz, das das Wahnsystem von Werner L. Harbinger (Christoph Bach) gleichsam visualisiert.

Und wenn die U-Bahn in überhöhtem Bildtempo durch die Tunnel rast, dann ist es so, als würden nicht nur die Protagonisten durch Stadt und Fall geschossen, sondern der Wahnsinn selbst sich seine Streuung suchen. Kamerafrau Eva Katharina Bühler und Regisseur Florian Baxmeyer bieten mit dem nervösen Rhythmus eine der überzeugendsten Bildsprachen im „Tatort“ 2017. Stark, sehr stark.

Reden wir vom Misslingen: Die Kommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) ermitteln einen komplexen Fall mit vier Toten. Schnell sieht es so aus, dass eine Spur in eine Kinderwunschklinik nach Wannsee führt.

Eine riesige Weltverschwörung?

Geschäftsführerin Irene Wohlleben (Almut Zilcher) und ihre Laborchefin und Ehefrau Hanneke Tietzsche (Eleonore Weisgerber) haben die Klink vor Kurzem an ihren Sohn Stefan (Trystan Pütter) übergeben. Er war in den 80er Jahren eines der ersten Retortenbabys in Deutschland. Stefan Wohlleben sieht die Leistungen seiner Eltern als wegweisend, sein Stolz kennt keine Grenze.

Und dann ist da Harbinger. Der Eigenbrötler betreibt einen Schlüsseldienst in der U-Bahnstation Alexanderplatz. Als 16-Jähriger verübte er einen Anschlag auf Irene Wohlleben, er leidet unter einer schizophrenen Psychose. Da wird selbst eine junge harmlose Frau vom Blumenladen gegenüber, die nur ein bisschen Nähe bei ihm sucht, zum Medium einer bösen Macht. Harbinger ist einer riesigen Weltverschwörung auf die Schliche gekommen, und er wird es sein, der die Apokalypse verhindert. Nicht er allein, da ist noch der „Legat“, der ihm die Befehle gibt, wen er aufspüren soll.

Die Autoren Michael Comtesse und der 2016 überraschend verstorbene Matthias Tuchmann schicken den Zuschauer ins Labyrinth. Er wird sich sehr anstrengen müssen, den roten Faden nicht aus den Händen zu verlieren. Zumal die Kommissarsanwärterin Anna Feil (Carolyn Genzkow) mit eigener Biografie in den Fall hineinragt. Nicht an einer, an mehreren Stellen kommt es zu einer dramaturgischen Überdehnung.

Berliner Realismus

Fast ein Wunder, dass Harbinger mit Vornamen Werner und nicht „Wahnfried“ heißen muss. Der Fall wird zwecks Aufladung überladen. Nicht die Spannung leidet, die Konzentration auf die Anspannung in den Figuren leidet unter der Zerfaserung. Kurz: Der Fall wäre mit weniger Figuren nicht schlechter erzählt.

Natürlich passt der Fall nach Berlin, in den Berliner „Tatort“. Die Stadt, in der sich Diesseitiges und Abseitiges gegenseitig bespiegeln. Regisseur Baxmeyer passt auf, dass Kleinigkeiten und Großigkeiten in seinen Berliner Realismus passen: Merkwürdig ist wenig, fiebrig ist viel, der Stakkato-Trommler unterm Alexanderplatz hämmert den Rhythmus in die Dramaturgie. Die Kamera geht mit, die Schnitte bringen den Puls der Handlung zum Anschlag.

Manches geschieht beiläufig, so wie auch die Kommissarsfiguren weitererzählt werden. Nina Rubin hat einen Cut überm Auge, der stammt aus einem „Dialog“ der alleinerziehenden Mutter mit dem Nachwuchs. Meret Becker pflegt unverändert und mit großer Konsequenz das Spillerige ihrer Kommissarin zwischen Engagement und Auslösung. Immer kurz vor fertig, die Fahnderin.

Unverschämt bis zum Schluss

Mark Waschke spielt Kriminalhauptkommissar Robert Karow. Nennen wir das mal Humor, was der Schnelldenker und Schnellsprecher so äußert. Robert Karow ist, sorry, ein Superarschloch, und das ist er gerne. Täuscht das oder schießt er Rubin – Superszene! – mit wollüstiger Entschlossenheit nieder, um als Konsequenz das Vertrauen von Harbinger zu gewinnen?

Auch in der Hand des Psychopathen lässt Karow nicht von seiner Unverschämtheit ab – Mark Waschke markiert einen Kamikaze-Bullen, der sich tief in den Berliner Boden schämen würde, wenn er mal einen Charmewettbewerb gewinnen würde.

Christoph Bachs spielt Harbinger im Ausnahmezustand. Nicht schäumend, nicht mit irren Augen, in diesem Menschen wirken andere Schaltkreise zusammen. Bach legt es nicht auf Verständnis für den Verirrten an, gar nicht, doch die Sympathie für den Einzelgänger wächst.

„Tatort: Dein Name sei Harbinger“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 15

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