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© ddp

Tatort: Kohlensack und Discokugel

Unverhoffter Karrieresprung: Wie Theaterstar Martin Wuttke doch noch Leipziger "Tatort"-Kommissar wurde. Er übernimmt die Nachfolge von Peter Sodann.

Für einen kurzen Moment liegt Berlin irgendwo in Amerika. Ein riesiger, alter Ford biegt in eine Seitenstraße von Charlottenburg und sucht einen Parkplatz. Aus dem Auto steigt ein Mann mit dunkler Sonnenbrille, Jackett, nach hinten gekämmten Haaren und Drei-Tage-Bart. Er schiebt die Sonnenbrille hoch und grüßt mit rauchiger, tiefer Stimme. Ein zeitlos wirksamer Auftritt.

Es ist Sonntag, der Tag, an dem Martin Wuttke ausschlafen kann. Am Freitag stand er noch in Leipzig vor der Kamera, danach in Wien auf der Bühne. Am Abend fährt er wieder nach Leipzig. Dort dreht er als neuer "Tatort"-Kommissar Andreas Keppler mitunter zwölf bis 14 Stunden am Tag. Das merkt man ihm nicht an. "Gut siehst du aus“, ist der erste Satz, mit dem Hauptkommissar Keppler in seiner "Tatort"-Premiere ("Todesstrafe“, 25. Mai, ARD) am neuen Dienstplatz empfangen wird. Selbst der große braune Koffer neben seiner schmächtigen Gestalt mindert nicht seine Erscheinung.

Es begann mit einer Absage

Die Kommissar-Laufbahn begann für den Schauspieler mit einer Absage. "Als in Berlin ein Casting stattfand“, erzählt er, "dachte ich: du kannst ja mal hingehen und dir eine Abfuhr holen. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass die mich nehmen. So war es ja dann auch.“ Erst ein paar Monate später bekam er das Angebot. Da wollte er schon gar nicht mehr so richtig. "Irgend jemand“, sagt er, "hielt aber die Kombination von mir und Simone Thomalla als meine Partnerin für besonders reizvoll.“

Es klingt, als hätte Martin Wuttke Zweifel daran, in den "Tatort“ zu passen. Als wäre er als Nachfolger des verwurzelten Sachsen Peter Sodann die falsche Besetzung. Es klingt so, als sei er ein Fremder in gleich zwei Welten: im Fernsehen und im Osten. Dabei bringt er in jeder Hinsicht die perfekten Voraussetzungen mit. Als Theaterschauspieler vermag er es, auch allein zu beeindrucken. Als einer, der aus dem Westen kommt, verfügt er über einen anderen Blick.

"Sicherlich gibt es in der DDR bestimmte Lebensumstände, die mir nicht unbekannt sind“, sagt er, "in den Industrieregionen wie Schwedt oder Leipzig ist die Arbeitslosenrate etwa so hoch wie die in Gelsenkirchen.“

Er war ein "Schlüsselkind"

In dieser Stadt im Ruhrgebiet wurde Martin Wuttke 1962 als Sohn eines Schlossers geboren. Als er in die Schule kam, zog die Familie nach Bochum. Dort starb seine Mutter, als er sieben Jahre alt war. Er lebte zusammen mit seinen zwei Brüdern und dem Vater, der als Ingenieur oft auf Montage reiste. Er war ein "Schlüsselkind“. Ein Kind, das selten unter Beobachtung stand und das seine "Unterhosen selber wusch“. Eines, dass das Geld, was in seinem Portemonnaie steckte, schon nach zwei Tagen ausgab, um sich dann welches von seinen Freunden zu schnorren. Viel Zeit verbrachte er auf den Industriebrachen der Stadt. "Sie waren Zonen, in denen man sich ohne Kontrollen aufhalten konnte“, sagt er. "Eine Art Freigelände. Da gab es keine Polizei und keine Erwachsenen.“ Die Industriebrachen sind Teil seiner Biografie: Hier hat er zum ersten Mal geküsst. Hier hat er Haschisch geraucht. Hier hat er zum ersten Mal Schnaps getrunken. So etwas vergisst man nicht. In gewisser Weise hat diese Kindheit Martin Wuttke früh eigenständig gemacht. Er hatte gelernt, sich durchzuschlagen. Er wusste, was es heißt, allein zu sein. Er wurde er selbst, bevor er jemand anderes werden konnte. Man könnte das als Glück bezeichnen.

Mit 16 flog Wuttke von der Schule, weil er einen Lehrer verprügeln wollte, der seine langen Haare und sein Äußeres bemängelt hatte. Mit Bevormundung konnte der Schüler nicht umgehen. "Heute“, sagt er, „würde ich das bestimmt anders lösen. Es hatte etwas Albernes. Der Lehrer war viel größer und viel stärker als ich.“ Er lacht und man erkennt in seinem schmalen Gesicht den kleinen Jungen wieder. Den Lausbub, der er einmal war. Klein und widerstandsfähig. Abgehärtet von der rauen Wirklichkeit des Ruhrpotts, gewappnet für die Gefahren, die das Leben mit sich bringt.

Das Thema Tod

Den Tod hatte er schon gespielt, bevor er auf die Schauspielschule ging. Auf einem dicken Sessel mit einer gebeugten, breiten Lehne, übte er im Wohnzimmer nicht nur Reiten sondern auch alle möglichen Formen des Sterbens. Messer im Rücken, Schuss ins Herz – je nachdem, fiel er vorn oder hinten vom Pferd. Diese Art des Zeitvertreibs hat ihm nicht gleich den Weg gewiesen. Zwei Jahre lang machte er in Bochum eine Ausbildung am Deutschen Institut für Puppenspiel, bevor er an die dortige Schauspielschule wechselte. Mehr ein Zufall: "Meine damalige Freundin wollte dort studieren“, erzählt er, "und weil ich so verliebt war, und sie sagte ‚das machst du jetzt auch’, habe ich mich dort beworben.“

Seine Freundin lehnte man ab. Wuttke hingegen schien immer schon ein Siegertyp zu sein. Wer die Brache kennt, kann nicht tief fallen. Mit seiner 1,70 Meter Körperlänge kam er ganz groß heraus. Er war diszipliniert, neugierig und zielstrebig. "Was mein Vater mir eingeimpft hatte“, sagt er, "war eine Art proletarischer Bildungskomplex“. Der zündete an der Schauspielschule, als er von Sachen hörte, die er nicht kannte, und er zu stolz war, das auch zuzugeben. Lieber lief er schnell nach Hause, las alles nach, um am nächsten Tag mitzuteilen: Also, das finde ich ganz uninteressant. Das sehe ich ganz anders. Er muss darüber lachen. Aber er weiß: "Dadurch habe ich in der Zeit viel gelernt – weil ich so viel nacharbeiten musste.“

Schauspielerei ist Täuschung, Fleiß, Präsenz. Sie beansprucht Verstand, Willen und Energie. Sie braucht Leute wie Wuttke. Leute, die mitdenken, fordern und auch einstecken können. "Herr Wuttke, Sie sind hier nicht als Schauspieler engagiert, sondern als Kohlensack aus dem Ruhrgebiet!“ Mit den Worten empfing ihn einst der Regisseur Einar Schleef am Schauspiel Frankfurt und wies ihn damit gleich in die Schranken. Was er ihm damit wohl sagen wollte, war: "Spielen Sie nicht den Schauspieler.“ Oder aber: "Seien Sie doch einfach das, was Sie sind. Das reicht ja.“ Mit diesem Wissen spielte er "Faust“ (Schauspiel Frankfurt), Kostja in Tschechows "Die Möwe“ (Thalia Hamburg), "Arturo Ui“ (Berliner Ensemble), Raskolnikow in Dostojewskijs "Schuld und Sühne“ (Volksbühne Berlin). Er arbeitete mit Regisseuren wie Ruth Berghaus, Robert Wilson, Frank Castorf, Heiner Müller. Am Berliner Ensemble schaffte er es mit 33 Jahren sogar zur Intendanz. Bislang hat er – bis auf ein paar Ausnahmen ("Liebesau“, „Tatort“ ) – immer das Theater dem Fernsehen vorgezogen.

Erfolg nicht an Zuschauerzahlen messen

Der Erfolg eines Schauspielers lässt sich nicht an den Zuschauerzahlen messen. Da würde Martin Wuttke im Vergleich zu allen "Tatort“-Kommissaren eher schlecht da stehen. Was diese an einem Abend an Einschaltquoten haben, hat Wuttke an Besuchern in seiner 25-jährigen Theaterkarriere nicht vorzuweisen. "Das ist nicht zum Weinen“, sagt er, "mit den sechs oder acht Millionen ,Tatort’-Zuschauern kann ich ja gar nicht kommunizieren. Das passiert völlig blind, die sind für mich im Prinzip gar nicht anwesend. Die Leute in meiner Vorstellung, die bedeuten was für mich, die haben meine Arbeit irgendwie beeinflusst.“

Wenn Martin Wuttke auf der Bühne steht, gibt es keinen Abstand zwischen ihm und dem Publikum. Er läuft, rennt ihm hinterher, holt es ein. Selbst wenn er leise spricht, hallt es im Saal. Er braucht kein Kostüm, keine Ausstattung, kein Podest. Er ist die Mitte, um die sich alles dreht. Wie eine Discokugel. Er sagt: "Was ich spiele, kommt immer aus dem Text. Ich versuche einfach, dessen Struktur nachzuformen.“

Mit seiner Rolle des "Arturo Ui“ wurde Wuttke berühmt. Die Verkörperung der Hitler-Karikatur von Bertolt Brecht brachte ihm 1995 den Preis "Schauspieler des Jahres“ und den Gertrud-Eysoldt-Ring ein. Er spielt sie bis heute, auf der ganzen Welt. In Buenos Aires ziehen sich die Zuschauer ihre Hemden aus, um sie ihm auf die Bühne zu werfen. So eine Begeisterung wird ihm als Hauptkommissar wohl nicht begegnen.

Martin Wuttke fiel auf, dass die Fernsehreihe zwar "Tatort“ heißt, es aber ganz selten um diesen geht. "Tatorte erzählen Geschichten“, sagt er. "Ich finde, man sollte Bezug auf sie nehmen, um zu verstehen, dass sie Spuren sind. Etwas, woran man viel erkennen kann.“ Als Andreas Keppler verbringt er viel Zeit am Tatort. Er umkreist, markiert, denkt, stellt nach. Er erinnert ein wenig an Inspektor Columbo, nur ohne Regenmantel.

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