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Medien: Treu bis in den Tod

Die Lesezirkel behaupten sich in der Medienkrise – auch dank der Sparsamkeit ihrer Kunden

Lothar Weißgerber geht es gut. Weil es seinem Unternehmen gut geht. In der dritten Generation leitet der 71-Jährige den Lesezirkel E. Weißgerber & Söhne in Berlin. Tochter und Enkel arbeiten auch schon im Betrieb, die Zukunft scheint gesichert zu sein. Weißgerber hat keine Angst, auch Opfer der Medienkrise und Anzeigenflaute zu werden. Er freut sich über stetig wachsende Abonnentenzahlen, und davon redet er auch gern. „Die alten Mietleser sterben zwar weg, aber gleichzeitig wachsen mehr junge Kunden nach.“ Hunderttausend Zeitschriften verlassen Monat für Monat das Lager in Berlin-Friedenau und werden von Kurierfahrern zu den Kunden gebracht. Bei Weißgerber entdecken vor allem „junge Paare, die nicht mehr so sprunghaft sind und längerfristig planen“ die Vorteile des preiswerten Mietlesens, sagt der Senior. Die Werbewirtschaft schenkt den „Lesezirklern“ bislang jedoch kaum Aufmerksamkeit. Zu sehr haftet an den Lesezirkeln ihr staubiges Image, eine Mixtur aus Möbelpolitur und Wirtschaftswunder-Spießertum. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache.

Laut Mediaanalyse lesen elf Millionen Deutsche über 14 Jahre jede Woche zu Hause, beim Friseur, im Café oder im Wartezimmer „Stern“, „Bunte“, „Neue Revue“ und Co. Davon gehören sechs Millionen Leser zur Gruppe der 14- bis 49-Jährigen, die von der Werbewirtschaft so sehr geschätzt wird. Fast die Hälfte der Leser ist Haushalten mit einem Nettoeinkommen von 2000 Euro und mehr zuzurechnen, und fast ebenso viele haben eine höhere Schulbildung. Im vergangenen Jahr lag der Jahresumsatz aller deutschen Lesezirkel bei rund 178 Millionen Euro. Das waren zwar 1,1 Prozent weniger als 2001, aber im Vergleich zur angespannten Lage vieler Zeitungen und Magazine stehen Weißgerbers Kollegen damit stabil da. Was wohl an den treuen Kunden liegt. Teilweise jahrzehntelang abonnieren sie ihre Lesemappen. Lothar Weißgerber erzählt dann gern von manchen Kunden, die schon mit dem Geld in der Hand an der Tür auf ihre Lektüre warten.

Aber auch die Gewerbekunden sind treu. Bei einer Praxisauflösung oder beim Eigentümerwechsel einer Gaststätte gehen die Verträge mit dem Lesezirkel oft einfach auf den neuen Betreiber über. Auf der anderen Seite übernehmen auch die Lesezirkel-Betreiber den Kundenstamm von Kollegen, die ihr Geschäft aufgeben. Allein in Berlin gab es einmal 36 Lesezirkel, heute sind es noch drei. Sie haben den Markt unter sich aufgeteilt. Für Klaus Hemmerling, den Geschäftsführer des Verbands Deutscher Lesezirkel, fällt beim Thema Kundenbindung auch der enge Kontakt zum Abonnenten ins Gewicht: „Jede Woche, wenn unsere Mitarbeiter die Zeitungen bringen, können Kunden ihnen Änderungen mitteilen, und die Lesezirkel können vor Ort darauf reagieren.“

Rund 180 Lesezirkel gibt es in Deutschland, vom Kleinbetrieb mit etwa hundert Mietlesern bis zum 1907 gegründeten Leserkreis Daheim, dem nach eigener Aussage größten Mietzeitschriften-Unternehmen in Europa. Das Prinzip hinter dem Geschäft mit der Mietlektüre: Der Kunde kauft Zeitschriften nicht am Kiosk oder im Abo, sondern mietet sie zu einem niedrigeren Preis bei einem Lesezirkel, der so genannte Lesemappen bis an die Haustür liefert und nach einer Woche wieder abholt, um sie dem nächsten Leser zu bringen. Zwei Drittel der Lesemappen landen in Privathaushalten, ein Drittel in Arztpraxen, Friseursalons, Kanzleien oder Gaststätten. Etwa fünf bis zehn Zeitschriften und Magazine gibt es im Standardpaket, das der Erstleser druckfrisch und mit Schutzumschlag erhält. Der Umschlag dient gleichzeitig als Werbeträger.

In Zeiten knapper Kassen wird Lektüre zum Sparpreis wieder attraktiv. Der Erstleser zahlt für eine Standardmappe 9 Euro 15 pro Woche, am Kiosk wäre es mehr als doppelt so viel. Neun Wochen später zahlt der letzte Leser nur noch 3 Euro 90, bevor die Zeitschriften abgeholt werden und im Recycling-Müll landen. Wöchentlich im „Klassik-Programm“ mit dabei sind „Spiegel“, „Stern“, „Bunte“, „Neue Revue“, „Frau im Spiegel“ und „Freizeit Revue“. Vierzehntägliche und monatliche Zeitschriften kommen dazu. Eine hinter vorgehaltener Hand „Ost-Mappe“ genannte Kollektion versammelt für 5 Euro 95 „Auto-Bild“, „Bild der Frau“, Sport-Bild“, „Freizeit Revue“, „Glücksrevue“, „Stern“ und ein weiteres Heft nach Wahl.

Manch kleinere Spezial-Zeitschrift verbucht die Hälfte ihrer verkauften Auflage über die Lesezirkel. Allein der Branchenriese „Stern“ mit einer wöchentlichen Auflage von 1,1 Millionen Heften setzt auf diesem Weg fast 200 000 Exemplare ab. Auf Platz zwei und drei folgen die „Bunte“ mit 160 000 und „Für Sie“ mit 120 000 Heften. In einer Hinsicht hat die Lesezirkel-Auflage für die Verlage dieselbe Bedeutung wie die Abo-Auflage: „Das ist für die Verlage ein todsicheres Geschäft“, sagt Lothar Weißgerber. „Es ist egal, ob die Nummer am Kiosk floppt. Die Lesezirkel-Kunden nehmen alle bestellten Exemplare, wie jede Woche. Und das Geld landet pünktlich auf den Verlagskonten.“

Für den Lesezirkel-Betreiber rechnet sich das Geschäft schon ab dem dritten Leser. Auch die Weißgerbers schöpfen daraus ihren Unternehmensgewinn. Die Anzeigen auf den Schutzumschlägen sind für das mittelständische Unternehmen mit 50 Mitarbeitern nur ein Zusatzgeschäft, um das es sich selbst kümmert. Vor allem lokale Firmen werben auf den Schutzumschlägen: Radiosender, Autohäuser oder ein Supermarkt. Trotzdem müssen viele Werbeflächen mit Eigenwerbung gefüllt werden. Denn bei deren Vermarktung hapert es.

Volker Nickel vom Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft (ZAW) schaut mit Respekt auf die Arbeit der Lesezirkel. Für Nickel kommt es aber jetzt darauf an, dass die Lesezirkel mehr auf die Werbewirtschaft zugehen: „Man muss nicht nur ein Produkt haben, sondern auch sagen, was dieses Produkt kann.“ Wöchentlich vermieten die Lesezirkel in Deutschland zweieinhalb Millionen Zeitschriften – ein gewaltiger Markt für Umschlagwerbung, den man den Werbetreibenden schmackhafter machen müsse als bisher. Das ist der Job des Verbands Deutscher Lesezirkel in Düsseldorf, der 129 der rund 180 Lesezirkel vertritt. Auf seiner Internetseite www.lesezirkel.de wirbt der Verband für seine Mitglieder. „Außerdem treiben wir Aufklärungsarbeit und wollen Defizite bei Werbeagenturen beheben“, sagt Geschäftsführer Klaus Hemmerling. Für die überregionale Werbung arbeitet der Verband mit spezialisierten Agenturen zusammen, die bundesweit Werbekunden akquirieren und in Konkurrenz zueinander stehen. Kein einfaches Geschäft in der heutigen Zeit.

Lothar Weißgerber zeigt sich unbeeindruckt. Auch mit wenigen überregionalen Anzeigen kommt er gut über die Runden. Sein wahres Kapital sind seine Kunden. „Und Lesezirkel-Leser“, sagt Weißgerber, „sind ein besonderes Völkchen.“

Matthias Lohre

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