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© SWR

TV-Drama: Zwischen Engel und Adler

Eine Mutter sucht in den Nachkriegswirren ihre Tochter. Kerstin Decker über ein beeindruckendes Fernseh-Drama mit Felicitas Woll.

Wer Sturm sät, wird Sturm ernten. Eine der größten Ungerechtigkeiten der menschlichen Existenz besteht darin, dass der zurückkehrende Sturm meist nicht die fatalen Sämänner selbst, sondern die Späteren trifft. Die Geschichte hat viel Sinn für solche Verwerfungen der Zeit. Und welcher Mensch, der seine Existenz, seine Heimat – ja, seine Kinder – verliert, sieht schon ein, dass er von einem Wind niedergeworfen wird, den er nicht losgeschickt hat? Und wie soll man das formulieren? Dass das noch immer, mehr als sechzig Jahre nach der größten Sturmernte der Geschichte, nicht ganz einfach ist, zeigen die jüngsten Unstimmigkeiten zwischen der Kanzlerin und den Vertriebenenverbänden.

„Kinder des Sturms“ heißt der Fernsehfilm, den die ARD am Mittwochabend zeigt. Kinder des Sturms sind die Jungen und Mädchen, die auf der großen Flucht aus den deutschen Ostgebieten ihre Eltern verloren haben. Und sie wegen der Aufteilung des Zufluchtslandes in Besatzungszonen um so schwerer wiederfanden. Es waren viele. Regisseur Miguel Alexandre scheint zum Mutter-kämpft- um-ihre-Kinder-Regisseur des deutschen Fernsehens werden zu wollen. Alexandres letzte große Arbeit war „Die Frau vom Checkpoint Charlie“. Damals kämpfte Veronica Ferres als republikflüchtige Mutter um ihre Kinder, die die DDR nicht ausreisen ließ. Diese Mutter erschütterte in ihrem Kampf die innerdeutsche Diplomatie. Alexandres Film zeigte es mit gewissen Vereinfachungen. Gut und Böse ist in solchen Fällen klar verteilt. Und welches Thema wäre imstande, die Menschen tiefer zu berühren? Gut (weil Ursymbol der Menschlichkeit) ist die Mutter, die um ihre Kinder kämpft. Böse ist, wer ihrer Wiedervereinigung im Wege steht. Im Falle der DDR war das kein Problem – für die meisten.

Hier ist das viel schwerer. Und dem Film tut es gut, dass er Balancen herstellen muss, nicht nur politische, auch seelische, vor allem seelische. Dass die Nichteindeutigkeiten viel größer sind als Eindeutigkeiten, genau wie im Leben selbst. Gleiwitz, der Ort des Vorwands, von dem der Zweite Weltkrieg ausging, der große Sturm. Nun kommt er zurück. Und er kommt nicht nur einmal, nicht nur, als die Front über ihn hinwegrollt. Stalin will den Osten Polens haben, also bekommt Polen ersatzweise den Osten Deutschlands. Erst auf der Potsdamer Konferenz soll das endgültig beschlossen werden, aber da man nie wissen kann, was Politiker wirklich beschließen, schaffen Russen und Polen seit dem Frühsommer 1945 vollendete Tatsachen. Und deshalb steht Familie Herrmann – es ist Juli 1946 – jetzt am Gleiwitzer Bahnhof. Der alte Vater (endlich und mit Wucht zurückgekehrt ins Kino und Fernsehen: Hermann Beyer), seine erwachsenen Töchter Rosemarie (Felicitas Woll) und Bettina (Inga Birkenfeld) sowie Rosemaries Kinder Maria (Magali Greif) und Jojo (Alexander Kalodikis).

Die Hermanns hatten noch Zeit, ihre Koffer zu packen. Nicht allen Vertriebenen ging das so. Manchen wurden zwei Stunden vorher mitgeteilt, dass sie ihre Häuser, ihre Dörfer, ihre Heimat verlassen müssen. Aber auch die Hermanns lassen nun ihre Koffer los. Sonst hätten sie keine Chance, sich in der Menge zu halten, die sich dem einfahrenden Zug entgegenwälzt. Wie dünn die Oberfläche unserer Zivilisiertheit ist, zeigen solche Szenen immer wieder. Und immer wieder ist man irgendwie überrascht von dem, was man längst schon weiß. Aber nicht nur die Koffer bleiben auf dem Bahnhof zurück, auch Maria, Rosemaries Kind. Sie ist zehn Jahre alt. Sie sitzt noch auf den Gleisen, als der Zug längst nicht mehr zu sehen ist. Zwischen den Gleisen liegt ein Stofftier. Puppen und Teddys suggerieren uns, dass die Welt heimatfähig ist, dass sie eine Ordnung hat, in der kleine Mädchen zu ihren Eltern gehören. Die Zehnjährige erfährt, dass das eine Lüge ist.

Autorin Gabriela Sperl hat eine Geschichte geschrieben, die mehr zeigt als sie ausspricht. Mutter Rosemarie – Felicitas Woll, die Lolle aus „Berlin, Berlin“, ist endgültig und eindrucksvoll erwachsen geworden – sucht von ihrem schwäbischen Zufluchtsort aus nach ihrem Kind und läuft Gefahr, das andere Kind, das ihr geblieben ist, zu vergessen. Zumindest spürt der kleine Junge, dass die Gedanken der Mutter mehr bei der Abwesenden sind als bei ihm, der vor ihr steht. Manchmal ist es leichter, den Abwesenden gerecht zu werden als den Anwesenden. Und wie der eigenen Schwester begegnen, die Maria losgelassen hat und die nun mit amerikanischen Soldaten lacht? Warum auch nicht, sie hat kein Kind verloren. Denkt Rosemarie. „Kinder des Sturms“ nimmt Worten wie Toleranz und Erinnerung – oder sollte man sagen: Aufarbeitung? – die Naivität, die ihnen anhaftet. Als könne man sich einfach dazu entschließen. Es bedarf einer nichtalltäglichen Situation, dass der begeisterte Soldat Hitlers, der im Stuttgarter Suchdienst arbeitet und Rosemarie hilft, ausspricht, was mit ihm passiert ist während des Krieges. Und es ist wieder eine Extremsituation, als Rosemarie über ihre Mutter spricht, die nicht mit ihnen gegangen ist. Wie genau doch dieser Film die Verhärteten an Geist und Seele von denen unterscheidet, deren Ich feine Bruchlinien trägt – ohne dass sie auf den Gedanken kämen, „ihre Geschichte aufzuarbeiten“.

Der Mensch braucht einen Begleiter. Die Sinnbilder solcher Begleiterfiguren heißen Engel. Hier ist es die Erzieherin (großartig: Sophie Rois) in dem Kinderheim, in dem Marias Odyssee vorläufig endet. Die Medienkritiker nennen Filme wie diesen vorzugsweise „großes Gefühlskino“, richtiger „großes Gefühlsfernsehen“. Ein schwachsinniges Wort, das aber auch das tendenzielle Zuviel schon enthält. Dieser Film hätte den großen Showdown nicht gebraucht.

„Kinder des Sturms“, ARD, 20 Uhr 15

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