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TV-Event: Kafka in Side

Erst vier Jahre ist es her, dass Marco W. Schlagzeilen machte - und schon hat Sat 1 aus der Geschichte des 17-Jährigen ein TV-Event gemacht. Doch was als Drama beginnt, endet in der Wiederholungsschleife. Daran können auch die Darsteller Veronica Ferres und Herbert Knaup nichts ändern.

Man kennt die Geschichte vom armen Marco W. aus Deutschland, der im türkischen Urlaub nahe der Stadt Side mit einem Mädchen turtelt. Ein bisschen Fummeln, und am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür. Carolina sei erst dreizehn, Marco wird wegen Sex mit einer Minderjährigen festgenommen und eingesperrt. Der Siebzehnjährige sitzt acht Monate. Und nicht etwa in einer Einzelzelle, sondern im Massenknast mit dreißig zum Teil schwer kriminellen Kerlen.

Jetzt haben Johannes Betz (Buch) und Oliver Dommenget (Regie) aus dieser Geschichte den Film „Marco W. – 247 Tage im türkischen Gefängnis“ gemacht, den Sat 1 am Dienstag zeigt.

Der sensible Vladimir Burlakov spielt Marco, Veronica Ferres und Herbert Knaup sind die Eltern. Noch in der Türkei kämpft das fassungslose Ehepaar verzweifelt um den Sohn; das machen Ferres und Knaup recht gut. Und der aus allen Wolken gefallene unselige Marco/Burlakov stolpert eindrucksvoll durch diesen Albtraum; hilfsbereite Anwälte und Dolmetscher können seine Freilassung nicht erwirken. Graue Eminenzen der türkischen Justiz, die von Vergewaltigung ausgehen, statuieren hier offenbar ein Exempel. Erst als die Causa in der Presse landet und die Türkei um ihren Ruf als Urlaubsland fürchten muss, setzt höheren Orts ein Umdenken ein. Und Marco kommt frei.

Der Film ist sauber gemacht, die Dialoge (Mutter: „Ich kann nicht mehr“, Vater: „Wir müssen können“) konventionell, die Spannungsmusik nervig, der Hauptdarsteller herausragend. Gleichwohl trägt der Film eine schwere Last, denn der Plot dreht sich ums Warten. Nach der aufregenden Exposition liegt der Witz der Sache darin, dass nichts geschieht. Marco bleibt im Bau.

Den literarischen Vorläufer dieses Stoffs findet man bei Kafka. „Jemand musste Marco W. verleumdet haben“, fällt einem ein, während man auf den Bildschirm starrt und sich die Szenen anschaut, die gedreht wurden, um die Wartestrecke notdürftig aufzufüllen: Mutter, Vater und Bruder daheim am Telefon bei ihren aussichtslosen Versuchen, dem Fall eine Wendung zu geben, Marco im Bau mit all den üblen Kunden, die vor seinen Augen fixen und prügeln. Ja, jemand hatte ihn verleumdet, aber die Mühlen der türkischen Justiz mahlen nach ihren eigenen Gesetzen und interessieren sich offenbar nicht für die Wahrheit. Der Druck, die Empörung, die Ausweglosigkeit – sie übertragen sich in ihrem emotionalen Niederschlag auf den Zuschauer.

Was als Drama begann, stockt jetzt und gerät in eine Wiederholungsschleife. So ähnlich fühlt man sich, wenn man bei einem Callcenter anruft und sich die musikalisch untermalte, ständig reproduzierte „Bleiben-Sie-in-der-Leitung“-Aufforderung anhören muss. Dass Kafka mit seiner Idee besser überzeugte, liegt daran, dass Warten sehr wohl ein literarischer Topos sein kann, aber kein dramatischer.

Es ist auch die Frage, warum ein Skandal, der quasi vorgestern passiert ist, jetzt schon als TV-Event – pardon – verwurstet werden muss. Auch von daher drängt sich ein unwillkommener Wiederholungseffekt auf: Wir erinnern uns alle noch gut an die „echte“ Marco-W.-Geschichte von 2007. Und nun gleich ihre TV-Verdoppelung? Das riecht nach vorschneller Einspeisung von „echtem“ Leid in die gefräßige TV-Maschine. Als habe, noch bevor die Wangen der Mama W. getrocknet sind, Veronica Ferres diese ganz besonderen Tränen schon für sich reklamiert.

„Marco W. – 247 Tage im türkischen Gefängnis“, 20 Uhr 15, Sat 1

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