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TV: Kleiner Mann ungewollt groß

Von der Mutter verlassen - jetzt kommt der Fall ins Fernsehen: In einem ARD-Film wird ein Zwölfjähriger notgedrungen zum Familienoberhaupt.

Wenn Tom ausnahmsweise mal pünktlich in die Schule kommt, dann johlt die Klasse höhnisch. Dabei ist der Zwölfjährige nicht etwa Langschläfer, er bringt nur vorher seine jüngste Schwester, die achtjährige Fanny, in die Grundschule. Er hilft ihr bei den Hausarbeiten, liest Gute-Nacht-Geschichten vor, kümmert sich um den Haushalt und schaltet den Fernseher aus, wenn Fanny und seine zweite Schwester Sophie mit ihren zehn Jahren zu lange in die Glotze starren. Tom ist das Familienoberhaupt, notgedrungen. An der Tür eines immer abgeschlossenen Zimmers hängt ein Zettel: „Mamas Reich – Kinder müssen draußen bleiben“. In Wahrheit ist Mama bereits ausgezogen. Bestenfalls schaut sie nach dem rechten, wenn die Kinder in der Schule sind, stellt ein paar Lebensmittel auf den Tisch, hinterlässt ein bisschen Geld und eine nicht sehr freundliche Nachricht. Die Kinder sind allein, der Vater lebt in Südafrika.

Niki Stein erzählt in „Der große Tom“, einem der ersten Höhepunkte des Fernsehfilmjahres, eine Familientragödie mit einem Kind als Helden. Man fragt sich eine Weile, warum Tom seine Mutter bei den seltenen Begegnungen nicht zur Rede stellt: „Warum lässt du uns allein? Wir brauchen deine Hilfe!“ Aber über diesen Punkt ist die Familie wohl schon hinaus. Tom wird von den praktischen Fragen des Alltags auf Trab gehalten und versucht verzweifelt, die Reste der Familie zusammenzuhalten. Dabei verteidigt er seine Mutter immer wieder, tischt Lehrern, Polizisten und der neuen Nachbarin Lügen auf – in der vagen Hoffnung, dass alles wieder gut wird. Wolf-Niklas Schykowski spielt diesen Tom ohne extreme Ausschläge, beinahe schicksalsergeben, aber mit einer stillen, unbeirrbaren Entschlossenheit. Kinder brauchen ihre Eltern und halten verbissen selbst an den eigentlich unbrauchbaren fest. Kinder werden missachtet, misshandelt, im schlimmsten Fall getötet. Auch Toms Filmgeschichte hat ein reales Vorbild. Nichts kann so extrem sein, dass es nicht vorstellbar wäre.

Aber deshalb muss es im Film ja noch nicht plausibel erscheinen. Beim Zuschauer sträubt sich alles dagegen, eine Figur wie diese Barbara Berger (Aglaia Szyszkowitz) für glaubwürdig zu halten: Immer wieder wendet sie sich von den eigenen Kindern ab. Auch nachdem Tom ihre Lügen aufdeckt und sie bei ihrem neuen Geliebten (Herbert Knaup) auftreibt, einem wohlhabenden Anwalt. Oder nachdem bereits das Jugendamt auf die Familie aufmerksam geworden ist, weil Sophie regelmäßig zum Flughafen ausbüxt, um ein Ticket nach Südafrika zu lösen. Es gibt Momente des Glücks, in denen die Mutter die Kinder in den Arm nimmt und mit ihnen Zeit verbringt. Umso furchtbarer, dass sie dann ihr Versprechen nicht einlöst und die Kinder in der nächsten Nacht wieder allein lässt. Manchmal scheint sie innezuhalten und über sich selbst erschrocken zu sein, doch dann gewinnt die Selbsttäuschung wieder die Oberhand. Sie muss sich erst einmal dem neuen Freund, der neuen Arbeitsstelle widmen. Dann wird sie auch wieder Zeit für die Kinder haben. Bis dahin ist ja Tom da, der große Tom.

Der Film gibt nicht vor, die Handlungsweise der Mutter bis ins Letzte erklären zu können. Autor und Regisseur Niki Stein, der für den Frankfurter „Tatort“ und für Filme wie „Die Konferenz“ bereits mehrfach für den Grimme-Preis nominiert worden war, bietet mögliche Motive an. Dazu gehört die Angst, wieder in Existenznot zu geraten. Aber es bleibt ein Rest, der unerklärbar ist, unerklärbar bleiben muss. Eine schwierige Rolle, die Aglaia Szyszkowitz respektabel bewältigt. Ihre Barbara Berger ist weder ein Monster, das seine Kinder kalt lächelnd im Stich lässt, noch das arme Opfer einer Gesellschaft, der das Schicksal alleinerziehender Frauen egal ist. Mit den Debatten um Kinderbetreuung, Eva Herman oder die Rolle der Mütter hat das wenig zu tun – oder nur insofern, in dem hier eindringlich an die Bedürfnisse der Kinder erinnert wird.

Für die richtige Balance sorgt eine weitere Frauenfigur: Cora, von Sandra Borgmann glänzend gespielt, zieht eine Etage unter den Bergers ein. Die neue Nachbarin, eine Stewardess, lebt allein und verhält sich gegenüber Kindern nicht übermäßig freundlich – eine moderne Frau, die mit Familie wenig im Sinn hat. Wie sich dennoch langsam zwischen Cora, ihrem Freund Felix (Stephan Kampwirth) und Tom eine vorsichtige Annäherung entwickelt, erzählt Niki Stein ganz ohne Rührseligkeit und Kitsch. In manchem TV-Familienfilm wären Cora und Felix womöglich als Ersatzeltern eingesprungen, und alles könnte wieder gut werden. Doch so funktioniert das in der Realität nicht, und auch Niki Stein und die verantwortliche Redaktion des Hessischen Rundfunks ersparen dem Publikum ein verlogenes Ende.

„Der große Tom“; ARD, 20 Uhr 15

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