zum Hauptinhalt

Twitter: Frankreich kämpft gegen den Antisemitismus 2.0

Frankreich sorgt sich um eine Welle antisemitischer Witze auf Twitter. Ist das ein Zeichen für ein gesellschaftliches Problem - oder bloß ein Twitterhype um geschmacklose Witze von politisch unsensiblen Teenagern?

Redefreiheit auf Twitter, das liest sich bisweilen so: „#derguteJude ist ein Jude, der gestorben ist“, schrieb neulich ein französischer Nutzer des Kurznachrichtendienstes. Andere folgten. Mitte Oktober erreichte die Welle der antisemitischen Witze ihren Höhepunkt. Der Hashtag „#lebonjuif“ – „#derguteJude“ erreichte in Frankreich Platz drei der am häufigsten verwendeten Hashtags. Ein Hashtag ist ein Stichwort, mit dem zusammengehörige Nachrichten gekennzeichnet werden und so leichter gefunden werden können.

Die Welle hatte mit einem einzelnen, sehr schlechten Witz begonnen. „#lebonjuif nimmt den Zug…“, schrieb jemand. Ein anderer antwortete: „#lebonjuif schmeckt angebrannt“. Die Nachrichten wurden mit Fotos aus Konzentrationslagern illustriert. Die Autoren bestanden darauf, dass es sich um Humor handele und nicht um Rassismus. Doch der Ausdruck „Antisemitismus 2.0“ war schnell in der Welt. Jonathan Hayoun von der Jüdisch-Französischen Studentenunion, ist schockiert: „Ich bin erstaunt, dass wir das noch in Frankreich erleben müssen. Der Erfolg dieses Stichworts ist erschreckend.“ Hayoun hat nichts gegen Witze über Religionen, auch nicht über Juden. Er hat selbst eine satirische Fernsehsendung mit dem Titel „Lachen gegen Rassismus“ organisiert. Außerdem hat er die Zeitung Charlie Hebdo verteidigt, als sie eine Mohammed-Karikatur veröffentlichte. „Doch hier geht es nicht darum, sich über eine Religion lustig zu machen“, stellt er klar. „Das hier geht gegen Menschen.“ Die französische Justizministerin Christine Taubira ergänzte: „Rassistische oder antisemitische Botschaften werden bestraft.“ Ob jemand sich im Internet unter einem Pseudonym oder aber außerhalb äußere, mache dabei keinen Unterschied, betonte sie. Die Jüdisch-Französische Studentenunion hat Twitter zu einer Dringlichkeitssitzung aufgerufen und die Löschung des Tags gefordert. Twitter hat sich dazu noch nicht abschließend geäußert. Das Unternehmen betont, es biete lediglich den Dienst an und sei nicht für Streitschlichtung zuständig. Trotzdem wolle man den Fall erörtern. Die Studentenunion will Anzeige gegen die (anonymen) Autoren erstatten. Es wäre das erste Mal, dass ein Twitter-Benutzer in Frankreich für rassistische Nachrichten vor Gericht gestellt wird.

Der Fall wirft die allgemeine Frage auf, wie weit die Redefreiheit auf Twitter reicht. Frankreich ist sich (mit Ausnahme der Autoren) einig, dass es sich um Antisemitismus handelt, und sorgt sich um dessen Verbreitung. Doch ist das Twitter-Phänomen tatsächlich ein Zeichen für weit verbreiteten Antisemitismus in Frankreich? Man muss auch berücksichtigen, wie Twitter funktioniert. Eine kleine Ursache kann leicht große Wirkung haben. Es ist ein Ort, an dem manche twittern, als würden sie gerade eine Anekdote oder einen Witz in einer Bar erzählen – obwohl es natürlich nicht nur die Tischnachbarn hören. Twitter hat jetzt fast 500 Millionen Benutzer. Das bedeutet, dass 500 Millionen Tischnachbarn den Witz hören. Natürlich kann man das Antisemitismus nennen. Es könnte aber auch einfach nur ein geschmackloser Witz sein. Es ist möglich, dass ein Teenager (denn von ihnen gibt es bei Twitter sehr, sehr viele) sich äußert, ohne sich der Wirkung bewusst zu sein. Erst die Masse, das Internet, macht aus einem einzelnen Witz eine antisemitische Welle.

Was dürfen wir twittern, was nicht? Bis zu welchen Grenzen darf man gehen, bis jemand verletzt wird, bis das Problem ein gesellschaftliches wird ? Kultur und Erziehung und Sensibilitäten sind bei den Franzosen sehr unterschiedlich ausgebildet. Es gibt keine Gebrauchsanweisung zum Verständnis der anderen, schon gar nicht auf 140 Zeichen. Allerdings muss der, der in die Öffentlichkeit geht, sich fragen, welche Grenzen er überschreitet.

Der französische Humorist Pierre Desproges pflegte zu sagen: „Man kann über alles lachen, aber nicht mit jedem.“ Gemünzt auf die sozialen Netzwerke könnte man sagen: „Man kann über alles lachen, aber nicht überall.“

Marine Mugnier studiert Journalistik in Frankreich. Sie ist zurzeit Hospitantin in der Berlin-Redaktion des Tagesspiegels.

Marine Mugnier

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false