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Medien: Und er zählt immer noch

Walter J. Schütz zum 75. Geburtstag

Im vergangenen Herbst war es wieder so weit. Bei Walter J. Schütz stapelten sich die Zeitungen zu hohen Bergen. Alle paar Jahre findet in Bonn-Lessenich die „Stichtagssammlung der deutschen Presse“ statt. Das bedeutet, dass eine Woche lang jede in Deutschland erscheinende Zeitung mit jeder ihrer lokalen Unterausgaben zu Schütz nach Hause geliefert wird. Das hat seinen Grund. Ohne Schütz wüsste niemand, dass in Deutschland derzeit exakt 1584 Zeitungsausgaben erscheinen. Ohne ihn gäbe es den Begriff „Einzeitungskreise“ nicht. So bezeichnet Schütz jene 246 von 440 Kreisen und kreisfreien Städten, in denen Zeitungsleser nicht die Wahl haben. Anders als in Berlin und anderswo steht Lesern in Einzeitungskreisen nur ein einziges Blatt zur Verfügung, um sich über lokale Nachrichten zu informieren. Und: Ohne Schütz, den Wächter über pressekonzentrationsrechtliche Vorgänge, gäbe es auch nicht den Begriff der „publizistischen Einheit“. So nennt Schütz seit nunmehr fünfzig Jahren eine autarke, also unabhängig von anderen arbeitende Kernredaktion.

Schütz war ein junger Mitarbeiter am Institut für Publizistik in Münster, als er Mitte der 50er die erste „Stichtagssammlung“ leitete. Sie und alle folgenden werden im Herbst 2005 gesammelt als Buch erscheinen. 1960 ging der Historiker und Publizistikwissenschaftler nach Bonn, wo er erst Konrad Adenauer und dann Helmut Schmidt frühmorgens die wichtigen Zeitungsausschnitte vorlegte. Später leitete er lange Jahre bis 1995 das medienpolitische Referat im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.

Wo andere mit Verve und manchmal auch Schaum vor dem Mund argumentieren, zählt Schütz nach. So wie damals, als er für den Tagesspiegel einfach mal nachrechnete, wie gewaltig die Macht der Zeitungen, die zur SPD gehören, wirklich ist. Bei weitem nicht so gewaltig, wie andere behaupten, folgerte er in seinem nüchtern geschriebenen Artikel und schickte der Tagesspiegel-Redaktion als Beleg mehrere Seiten mit den entsprechenden akribischen mathematischen Berechnungen. Handgeschrieben natürlich, Technik ist in seinen Augen Teufelszeug. Gegen Schütz’ Analysen ist schwer anzukommen, auch wenn manchem, dem nach diesem Artikel wochenlang der Hals schwoll, das Ergebnis nicht in den Kram passte. Andere, denen Schütz mit guten Argumenten widersprach, fühlten sich insgeheim geehrt, hatte ihnen doch Deutschlands berühmtester Zeitungsstatistiker widersprochen. Noch heute lehrt Schütz an der Universität Hannover, schreibt Kommentare und Aufsätze und verschickt den gelungensten von ihnen jedes Jahr als Nachdruck „mit den besten Grüßen zum Weihnachtsfest“ an Kollegen und Wegbegleiter.

Beim Regierungsumzug hat sich Schütz geradezu beeilt, um sich neben seinem Bonner Wohnsitz auch eine Wohnung in Berlin zuzulegen. Hier, an der Spree, hatte er sich als kleiner Junge während der 700-Jahr-Feier zum ersten Mal verliebt. Das war 1937, er war gerademal sieben Jahre alt. Diese Geschichte erzählte er bei der Feier seines 70. Geburtstags, zu dem er auf eine Bootsfahrt auf der Spree eingeladen hat. Fünf Jahre ist das jetzt her. Heute wird Walter J. Schütz 75. Und er zählt immer noch.

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