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Medien: Verrückte Kunst

Eine Arte-Dokumentation über die Heidelberger Prinzhorn-Sammlung

Der Patient eines psychiatrischen Krankenhauses im London des 19. Jahrhunderts war überzeugt, einer Verschwörung auf die Schliche gekommen zu sein: eine Bande Krimineller würde mit einer Maschine Gerüche verströmen, die den Willen der Menschen beeinflussen. Er fertigte eine Zeichnung dieses Geräts an, das er „Maschine der Beeinflussung des menschlichen Geistes“ nannte. Rund zweihundert Jahre später baute ein Künstler anhand jener Skizze dieses Gerät nach: Aus Holzfässern, die einen viereckigen Hohlraum umstellen , kommen tentakelartige Lederschläuche und verschwinden, immer dünner werdend, in den Wänden des Vierecks. Heute steht die eigentümliche Maschine in Heidelberg und gehört zur weltweit bedeutenden Prinzhorn- Sammlung von Bildern, Skulpturen und Texten aus deutschen und europäischen psychiatrischen Kliniken.

Die Arte-Dokumentation „Wahnsinnige Kunst“ von Christian Beetz setzt sich jetzt mit dieser Sammlung auseinander. Im ersten Teil „Das unerhörte Genie“ geht es um die Angst vor Beeinflussung, wie sie der Londoner Patient hatte, aber auch um Allmachtsfantasien männlicher Patienten in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Im zweiten Teil „Der gewebte Schmerz“ wird das Leben von Frauen in Nervenheilanstalten um 1900 beleuchtet. Schafft man es als Zuschauer die bedeutungsschwangere Off-Stimme weitestgehend auszublenden, erhellen beide Teile dank ausgewählter Interviewpartner die oft beeindruckenden Werke der Künstler, die aus unterschiedlichsten Gründen zu Psychiatrie-Patienten geworden sind.

Entstanden ist die Prinzhorn-Sammlung ab 1919. Damals arbeitete der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn als Assistenzarzt an der Heidelberger Universitätsklinik. In einem Rundschreiben forderte er die Leiter psychiatrischer Anstalten im In- und Ausland auf, ihm die schöpferischen Ergüsse ihrer Patienten zukommen zu lassen. 1921 war Prinzhorns Sammlung bereits auf mehr als 5000 Arbeiten von rund 450 „Fällen“ angewachsen. Später veröffentlichte er dazu das Buch „Die Bildnerei der Geisteskranken“. Während Prinzhorns Kollegen reserviert reagierten, war die Kunstszene begeistert. Das Buch, das sich an der Grenze zwischen Psychiatrie und Kunst bewegt, bildete einen der ersten Versuche, die Schöpfungen psychisch Kranker zu analysieren. Die Schicksale der „schizophrenen Meister“, wie Prinzhorn einige Patienten würdigte, waren dennoch bis vor kurzem weitgehend unbekannt.

So wie beispielsweise das Leben von Karl Genzel. Von Beruf eigentlich Maurer, war er wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Kuppelei angeklagt und landete in einer Anstalt. Dort wurde er zu einem virtuosen Holzschnitzer. Die berühmtesten Werke der Sammlung stammen von August Nattarer. Er behauptete, dass ihm innerhalb einer halben Stunde in Tausenden von Bildern die Welt offenbart worden sei. Diese Bilder seiner mutmaßlichen Halluzination zeichnete er nach. Ohne ihn sei der bildliche Surrealismus kaum denkbar, attestieren heute Kunsthistoriker. Prinzhorn selbst schätzt besonders die Arbeiten von Franz Karl Bühler. Der Patient sah sich selbst als Arzt in der Anstalt, fertigte Krankenakten, dokumentierte das Alltagsleben. Vor seiner Erkrankung galt er als hervorragender Kunstschmied. Nach 42 langen Jahren in psychiatrischen Anstalten wurde er 1940 während des Nationalsozialismus, wie viele psychisch kranke Menschen, Opfer der „Euthanasie“. Zuvor waren seine Werke in der Ausstellung „Entartete Kunst“ zu sehen, die von den Nationalsozialisten zur Diffamierung avantgardistischer Kunst missbraucht wurde.

Von psychisch kranken Frauen Anfang des 19. Jahrhunderts ist vergleichsweise wenig überliefert. Umso faszinierender und verstörender sind ihre Strickereien, von denen zum Teil nur den Krankenakten beigelegte Fotografien überliefert sind. Für die weiblichen Patienten war das Benähen von Bekleidungsstücken mit Bildern und Texten, das Zusammensetzen von Stofffetzen und bunten Fäden zu mystischen Symbolen, zu Mustern oft die einzige Möglichkeit, ihre Emotionen auszudrücken. Die Prinzhorn-Sammlung überstand den Zweiten Weltkrieg und geriet danach in Vergessenheit. Erst seit den 60er Jahren wurde der Bestand archiviert und zu restauriert. Seit 2001 ist sie in einem eigenen Museum in Heidelberg untergebracht.

„Wahnsinnige Kunst“, Arte, heute und 9. September, jeweils 20 Uhr 15

Nino Ketschagmadse

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