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Ein Star war Fotoreporter Wolfgang Kerber (Edgar Selge) in der DDR, nach der Wende kommt er weder mit dem Job noch mit seiner Tochter Margitta (Anja Schneider) klar. Foto: ZDF

© ZDF/Sandy Rau

VORWÄRTS UND ALLES VERGESSEN?: Im Wendeknick

Der großartige Edgar Selge spielt in dem Film "Im nächsten Leben" einen DDR-Reporter, der Anschluss an die neue Zeit sucht.

Sein erster Spielfilm hieß „Jena Paradies“. Nach den Vorführungen geschah fast jedes Mal etwas Eigentümliches. Die Zuschauer begannen, über Lebensläufe Ost zu reden mit ihrem charakteristischen Wendeknick, der oft viel mehr war als ein Knick. Bei manchen einfach Abbruch, in jedem Fall ist da nichts Gerades, sondern etwas Gebogenes, und die retrospektive Frage lautete: Handelt es sich um eine positive oder um eine negative Krümmung?

Marco Mittelstaedt, 1972 in Berlin geboren, Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), dachte an seinen eigenen Vater und entschied: um eine negative! Und er wusste, von wem sein neuer Film handeln würde, von seinem Vater, der Cheffotograf der DDR-Nachrichtenagentur ADN war.

„Im nächsten Leben“ gehört zu den Filmen, die nicht alt werden, die auch beim Wiedersehen fesseln wie beim ersten Mal durch ihre wunderbare Präzision, und das ist natürlich die des Schnitts, der Kamera, aber vor allem die des Hauptdarstellers Edgar Selge. Selge ist der Virtuose eines sehr spezifischen Rollenfachs. Er kann den Absturz eines Menschen in Zeitlupe spielen. Hier ist er Cheffotograf der größten, weil einzigen Nachrichtenredakteur der DDR, und heißt Wolfgang Kerber.

Ein guter Fotoreporter lebt von seiner Witterung fürs Neue und ist nach Möglichkeit der erste am Ort des Geschehens. Und Kerber hat allen Ehrgeiz seines Lebens darangesetzt, ein sehr guter Reporter zu sein, auch wenn die DDR solche Qualitäten nur bedingt anerkannte. Nach einer kurzen spätherbstlichen Erstarrungspause 1989 wusste der Journalist genau, was zu tun war. Der Erfolgsmensch, der Realist in ihm wusste es: Bald wird allen die Realität unter den Füßen weggezogen sein, ist es nicht die Pflicht eines Realisten, schneller zu sein als die Wirklichkeit? Die Zukunft des Beeil-Journalismus liegt in den großen bunten Blättern. Also wurde Kerber Polizeireporter bei einer Boulevardzeitung, Spezialgebiet: das Grauen der Ostprovinz.

Im wirklichen Leben – also im Leben des Marco Mittelstaedt – verstand der Sohn die Welt nicht mehr. Er war siebzehn damals, machte Abitur. Ein Vater ist für ein Kind die anfängliche Verkörperung der Welt, und dass man Welten so schnell wechseln kann, hätte es nicht gedacht. Siebzehn Jahre, das ist ein unmenschliches Alter. Nie wieder wird der Mensch so hochmoralisch, so unnachsichtig sein, so idealfühlig, so kompromisslos-hellsichtig gegen die Erwachsenenwelt. Darum liegt im Älterwerden auch eine Chance.

Es ist die Chance des Verstehens. Marco Mittelstaedt hat sie genutzt. Sein Film ist voller erbarmungslosem Erbarmen. Er kommt ganz ohne Rückblenden aus, alles wird aus der Gegenwart heraus erzählt. Und statt des Sohnes hat der Reporter hier eine Tochter. Immer wieder gelingen Marco Mittelstaedt Szenen von großer Verdichtung, gemacht aus lauter Alltäglichkeit und diese doch lautlos übersteigend. Die Nebengeräusche des Lebens sind nicht weggefiltert, sie behaupten denselben Rang wie unsere meinende Sprache – Stimmen unter Stimmen.

Die Frau des Reporters hatte sich offenbar nicht wie ihr Mann für die Lebensoffensive entscheiden können. Und die Tochter (groß in ihrer Zurückgenommenheit: Anja Schneider) pflegt längst schon eine gewisse nachsichtig gewordene Verachtung für ihren Vater. Nur wenn er zu herablassend über ihren Lebensversuch in der Provinz spricht, lässt sie ihn schon mal allein im Café sitzen.

Mittelstaedts „Im nächsten Leben“ besteht aus lauter Doppeldeutigkeiten. Es ist das tief menschliche Porträt eines Mannes geworden, der mit Mitte fünfzig verzweifelt versucht, nicht den Anschluss zu verlieren. Heißt Anschluss ans Leben nicht auch: die neueste Technik bedienen zu können? Die Fotos von unterwegs zu senden? Einzusehen, dass man nach einer Schreckensgeschichte aus der Ostprovinz nicht die Wie-es-dann-besser-wurde-Geschichte schreiben kann? Weil die, so Wolfgang Kerbers Chefredakteur, keinen Menschen, aber auch wirklich keinen Menschen, interessiert.

Er sagt das nicht aus Zynismus, er ist ein treuer Diener seiner Leser. Dass beides manchmal auf dasselbe herauskommt, ist die Lektion, die selbst Wolfgang Kerber noch immer nicht lernen will. Weshalb man auch in der Redaktion ein eher nachsichtig-schonendes Verhältnis zu dem Kollegen Ost unterhält. Er war ein Star? Schon gut! Aber Kerber gibt nicht auf.

„Im nächsten Leben“ ist zugleich ein Porträt des zeitgenössischen Journalismus geworden – nicht unbedingt ein schmeichelhaftes. Wenn dieser Kerber nicht bald eine richtig gute Ostgeschichte liefert, sieht es schlecht aus für ihn. Edgar Selge spielt die erste Angst eines Menschen, der noch nie Angst hatte, die erste Unsicherheit des Selbstgewissen. Er wird denen eine Geschichte liefern, wie sie noch keine gelesen haben. Er geht dafür bis zum Selbstverrat. Oder nein, bis zum letzten Schritt vor diesem Verrat. Der Preis, ihn nicht zu begehen, ist sehr hoch: eine Selbstbegegnung.

„Im nächsten Leben“, 22 Uhr, Arte

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