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Web 2.0: Das Sozioquarium

Eintauchen ins Unbekannte: "Chatroulette" verbindet Fremde per Webcam – Millionen machen mit.

Man braucht nur eine halbe Stunde, um die Welt zu sehen. Okay, vielleicht sieht man auf dem Weg ein paar Onanierende, ein bis zwei Paar nackte Brüste und viele stumpf vor sich hin blickende Gesichter. Aber vielleicht trifft man auch ein, zwei lustige Monstermaskenträger, eine einsame Krankenschwester aus New Jersey, zwei Chinesinnen mit Turbanen und falschen Bärten – oder einen Feuerwehrmann, ebenfalls aus China, der in seiner Kaserne sitzt, Stockbetten und gähnende Kollegen im Hintergrund, und grinsend seinen Helm in die Kamera hält. Und von seiner Tochter erzählt. Und fragt, ob man selbst Kinder hat. Und „nice place“ schreibt, wenn man die Webcam durchs eigene Wohnzimmer schwenkt. Das ist Smalltalk, klar. Eine Momentaufnahme. Aber auch, trotz allem: eine faszinierende Begegnung.

Genau darum geht es auf der Videochatseite Chatroulette. Bei diesem neuesten Internethype werden Nutzer mit einem, so die Wortwahl, „zufälligen Fremden“ verbunden. Nutzer können miteinander sprechen oder per Texteingabe chatten – bis einer die Taste „F9“ oder den „Next“-Knopf drückt: Der Nächste, bitte. Dann wird ein neuer Partner gesucht, Zehntausende sind immer gleichzeitig online. Eine Registrierung oder Alterskontrolle gibt es ebenso wenig wie eine Suchfunktion oder Userprofile. Laut Nutzungsbedingungen müssen Chatroulette-Spieler zwar mindestens 16 Jahre alt sein und dürfen keine obszönen oder pornografischen Inhalte verbreiten. Doch angesichts der Flüchtigkeit mancher Paarungen – wer nicht interessiert, wird oft schon nach ein, zwei Sekunden weggeklickt – scheint eine effektive Kontrolle kaum möglich. Als „Schwanzvergleich 2.0“ wird Chatroulette denn auch in einem Internetforum verspottet.

Für den Hildesheimer Kulturwissenschaftler Stephan Porombka ist vor allem das „ungeheure Schockpotenzial“ ein Problem. Hinter jedem nächsten Klick könne „etwas Verstörendes“ warten“ – Sex, Gewalt, Beleidigungen. Es könnten sich zudem „Strategien der Täuschung und Verführung von Unwissenden und Ahnungslosen entwickeln“. Hier gilt, wie für andere Internetangebote auch: Eltern sollten mit ihren Kindern über deren Netzaktivitäten sprechen, persönliche Daten sollten nicht sorglos weitergegeben und überhaupt das Internet nicht im Übermaß genutzt werden. Die mündigen User sind indes begeistert: „Habe mit einem Kumpel den gestrigen Abend damit verbracht. So habe ich mir das Internet immer vorgestellt“, schreibt einer in einem Forum. Ein anderer jubelt: „Ein grandioses Sozioquarium!“ In den USA werden sogar moderierte Chatroulette-Partys in Bars veranstaltet, eine Art Public Chatting also.

Wie erklärt man den Erfolg des Angebots, das im November 2009 gegründet wurde und bereits im Januar 2010 laut Branchendienst Comscore über eine Million Nutzer hatte? Der Erfinder des Video-Panoptikums, der 17-jährige Moskauer Computerfreak Andrej Ternowskij, bekommt Mails von Investoren aus der ganzen Welt. „Spiegel Online“ berichtet von Schätzungen, die den Wert der Seite zwischen 10 und 30 Millionen Dollar ansiedeln. Dabei können Nutzer längst über Websites wie ustream.tv oder justin.tv ihre eigenen Video-Livestreams in die Netzwelt senden, Angebote wie omegle.com oder gettingrandom.com vermitteln Eins-zu-eins-Chats zwischen Fremden – allerdings: ohne Webcams.

Andrej Ternowskijs Erfindung bringt all dies zusammen. „Chatroulette ist die schnellste Nummer unter allen schnellen Nummern, die das Internet zu bieten hat“, sagt Porombka. Mit den Chat-Blind-Dates werde der Kontaktrausch, der sich bei den Usern über die Sozialen Netzwerke eingestellt habe, noch gesteigert. „Auf Facebook muss man noch ein Freundschaftsnetz aufbauen und pflegen. Bei Chatroulette kann man blitzschnell mit Fremden in Kontakt kommen – um sie noch schneller wieder wegzuklicken.“

Der Kulturwissenschaftler sieht vier Erfolgsgeheimnisse des Angebots: Erstens der einfache, anonyme Zugang – jeder könne es sofort ausprobieren, ohne viel Zeit zu investieren und ohne seine Identität preiszugeben. Zweitens das Live-Bild – man müsse nicht mehr aufwendig mit Schrift chatten, um zu erfahren, wer der andere eigentlich ist oder sein will. Drittens der Zufall – im Sekundentakt werden Überraschungen generiert. Und viertens die Weiterklickfunktion – „man kann sofort wieder auf das Karussell steigen, wenn man das Gefühl hat, dass man an der falschen Stelle stehen geblieben ist.“

Der Reiz von Chatroulette ist gerade auch der Reiz des Neuen, Ungeregelten, Chaotischen – im Gegensatz zum allgegenwärtigen Versuch der Bändigung, der Strukturierung des unendlichen Netzes. Das „New York Magazine“ hat Chatroulette als „Wilden Westen“ bezeichnet, einen „dummen, tief gehenden, spannenden, ekelhaften, vollkommen gesetzlosen Boom.“ Fraglich ist, ob das so bleibt. Noch wirkt die Seite rudimentär. Keine Bilder, keine Farben, nur zwei Videofenster, ein Chatfeld, ein Menü, unten ein Werbelink zu einer Dating-Seite. Und eine Ankündigung Andrej Ternowskijs, er arbeite an neuen, verrückten Funktionen.

In der Zwischenzeit ist es an den Usern, etwas aus dem neuen Medium zu machen. Das „New York Magazine“ etwa berichtet von einem Chatter, der seinen Partnern die Karten legt – und weiterempfohlen werden will. Dass bestimmte Akteure „so etwas wie eine Kunstform für Sekunden-Performances entwickeln“, überrascht Porombka nicht, viele Beispiele sind auf Youtube dokumentiert. Über kurz oder lang werde es „auch Chatroulette-Stars geben, denen über das Zufallsprinzip zu begegnen einem Sechser im Lotto gleichkommen wird.“

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