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Medien: Wer nicht lesen will, kann hören

Prominente Stimmen und ungehörte Mobilität dank iPod & Co: Der Boom des Hörbuchs kennt keine Grenzen

Wenn das lesefaule Volk schon nicht sehen mag, dann soll es hören. Und es hört. Zum Beispiel, wenn Bela B von den „Ärzten“ und Thomas D von den „Fantastischen Vier“ ihr Debüt als Literaten geben und Goethes „Faust“ lesen. Wenn Sabrina Setlur – einst zur erotischsten Frau Deutschlands gekürt – Kafkas „Verwandlung“ zum Besten gibt oder der Musiker Baxxter, bekannt aus der Gruppe „Scooter“, frühe Texte von Thomas Bernhard rezitiert. Modezar Wolfgang Joop versucht sich an Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ und Hella von Sinnen erzählt von der „Prinzessin auf der Erbse“.

Das Pendant zur Leseratte hat noch keinen Namen. Aber der Markt ist nicht gesättigt. Zwar ist das Hörbuch mit 3,2 Prozent Anteil am gesamten Buchmarkt noch ein Nischenprodukt. Aber Schätzungen zufolge stieg der Umsatz allein zwischen 2003 und 2004 von rund 80 Millionen auf 140 Millionen Euro. Am erfolgreichsten war der Hörverlag mit 16,5 Millionen Euro. Auch Random House Audio profitierte mit sieben Millionen Euro Umsatz, gefolgt von Jumbo (4,64 Millionen Euro) und Lübbe (4,6 Millionen Euro).

Vom Boom wollen viele profitieren: Waren vor vier Jahren auf der Leipziger Buchmesse noch 40 Hörbuchlabels vertreten, so präsentierten in diesem Jahr 120 Verlage ihre Neuheiten. „Kultigen Charakter“ schreibt Cornelia Waldenmaier vom Arbeitskreis Hörbuch des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den Audiobüchern zu. Doch würden die Hörer auch unbekannten Stimmen lauschen?

Die Frauenzeitschrift „Brigitte“ jedenfalls wollte kein Risiko eingehen, als sie in der Hörbuchedition „Starke Stimmen“ nur prominente Frauen weniger prominente Bücher lesen ließ: „Schon zwei Tage vor dem Verkaufsstart gab es 50 000 Anfragen nach den New-York-Geschichten, gelesen von Elke Heidenreich“, freut sich Brigitte-Sprecherin Sabine Schmidt-Kruse. Dennoch will Bert Petzold, Programmdirektor beim „Deutsche Grammophon“-Verlag in der Entwicklung keinen Trend entdecken: „Dass Prominente lesen, ist nicht der Trend. Vielmehr wird das Hörbuch von ihnen als attraktives Medium entdeckt.“

Wer oder was zuerst da war, spielt für Cornelia Waldenmaier keine Rolle. Sie findet den Boom bekannter Stimmen „ganz wunderbar“. Denn die seien ein Weg, „verschmähte Literatur“ unter Kulturmuffel zu bringen. Unbelesene Zielgruppen, meist Jugendliche, könnten für Texte begeistert werden, die sie sonst als „uncool“ links liegen gelassen hätten: Wenn ein Popidol Goethe liest, kann der ganz unverhofft zum Kultobjekt aufsteigen.

Kult war die Otherland-Buchreihe von Tad Williams freilich bereits lange bevor der Hörverlag zusammen mit dem Hessischen Rundfunk auf die Idee kam, aus den mehrere tausend Seiten umfassenden Texten das größte Hörspielprojekt mit über 250 erstklassigen Stimmen und einer genialen Klangcollage zu schaffen. Am Ende werden die vier Teile die Hörer über 24 Stunden in die fantastischen Welten des US-Autors entführen. Der große Erfolg – bereits vom ersten Teil wurden mehr als 50 000 Exemplare abgesetzt, der zweite Teil ist gerade im März auf den Markt gekommen – hat die Macher dazu motiviert, die verbleibenden zwei Teile nun bereits im Juni und im September folgen zu lassen, wie Stefanie Frühauf vom Hörverlag sagte. Ursprünglich sollten die vier Teile im halbjährlichen Abstand folgen. Und Otherland soll sich rechnen: „Der Titel wird ein Longseller sein, den wir auch noch in fünf Jahren im Programm haben werden. Wir gehen davon aus, dass ,Otherland‘ zu jenen 20 Prozent an Produktionen gehört, die andere Projekte mitfinanzieren“, glaubt Frühauf.

Und noch einen Grund für die wachsende Beliebtheit des hörbaren Lesestoffs meint Waldenmaier zu kennen. Hörbücher laden zum Multitasking ein und erfreuen das rastlose Gemüt des Homo Movens: Man kann gleichzeitig putzen, kochen, sporteln oder Auto fahren und per Hörbuch seinen literarischen Horizont erweitern.

Besonders einfach geht das, wenn das Hörbuch nicht als CD in Erscheinung tritt, sondern gleich komplett digital vertrieben wird – über das Internet. Vor allem das in Amerika bereits sehr erfolgreiche System von Audible fordert inzwischen auch in Deutschland zum „Clever lesen“ auf. Angesprochen werden davon vor allem die Besitzer von digitalen Abspielgeräten, allen voran dem iPod von Apple. Aber selbst auf den weit verbreiteten Handheld-Organizern kann man die Hörbücher und Hörspiele auch unterwegs genießen, ohne dafür nur eine einzige CD mit sich herumschleppen zu müssen. Ein ausgeklügeltes Verschlüsselungssystem sorgt dafür, dass Rechteinhaber wie Autoren und Verlage an ihr Geld kommen. Das neue Vertrauen in die digitale Sicherheit hat gerade erst dazu geführt, dass der neue Grisham-Titel „Die Begnadigung“ in Deutschland noch vor der CD-Veröffentlichung als Audiobook bei Audible vertrieben wurde. Die Sicherheit vor Datendieben hat allerdings ihren Preis, denn längst nicht auf jedem MP3-Player lassen sich die Audible-Hörbücher abspielen. Darum geht Konkurrent soforthoeren.de auch einen anderen Weg. „Wir wollen unsere ehrlichen Kunden nicht gängeln“, sagt Plattform-Betreiber Harald Rieck.

Immerhin 50 – derzeit überwiegend kleine – Hörbuchverlage sehen das genauso und vertrauen auf das vom Darmstädter Fraunhofer Institut entwickelte Wasserzeichen-Verfahren. Dabei erhält jede MP3-Datei eine für die Anwender unsichtbare und unhörbare Kennzeichnung. Dagegen entfällt die Beschränkung auf bestimmte Gerätetypen, jeder MP3- Player kann genutzt werden, und das sogar in höherer Qualität als bei Audible, wie Rieck sagt. Solange der Audiobook-Käufer nur direkt im Freundeskreis tauscht, passiert nichts. Landet das Hörbuch jedoch in einer Internet-Tauschbörse, kann der ursprüngliche Käufer schnell ermittelt werden.

Doch beschert die Hörbegeisterung auch Verlegern herkömmlicher Bücher schwarze Zahlen : „Der Erfolg eines Hörbuchs kurbelt oft den Wiederverkauf der Textversion an“, meint Schmidt-Kruse. Der Kulturpessimist darf sich also getrost zurücklehnen – das Volk will offenbar beides: hören und lesen.

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