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Anne Will und ihre Talkshow im Ersten

© picture alliance / Eventpress

Wie läuft "Anne Will"?: Bei Jauch war mehr Lametta

Da ist zu viel Talk-Liturgie und zu wenig Rock ’n’ Roll: Eine Bilanz der ersten Monate von „Anne Will“ am Sonntagabend.

Lean forward, lean back. Offensichtlich ist das der wesentliche Unterschied in der Zuschauerhaltung bei „Günther Jauch“ und „Anne Will“. Wer Jauchs Talkshow in dessen Circus maximus folgte, der war durchaus gespannt auf die anstehenden 60 Minuten, der saß vorne auf der Sofakante. Ganz vorne saßen die Kritiker. Eine Mehrheit unter ihnen wartete aufs Versagen des „Volks-Unterhalters“ Jauch, der wieder journalistisch arbeiten und als Talkmaster der Nation reüssieren wollte.

Jauch ist weniger oft abgestürzt, als es seine Kritiker wahrhaben wollten, es ist ihm gelungen, ein sehr großes Publikum Woche für Woche für Politik und Artverwandtes zu interessieren. Auf der Gasometer-Plattform, wohin sich die Studiokamera im Drohnenmodus stürzte. „Günther Jauch“ bot eine Bühne, der Talk bot auch Zirkus, in dem Günther Jauch mal der Direktor und mal jener war, der durch den Reifen sprang; da war ordentlich Lametta.

„Anne Will“ nahm im Januar wieder den Sendeplatz in Besitz, den ihr Jauch 2011 weggenommen hatte. Wenn diese Talkshow beginnt, dann ist für das Publikum Lean back, also Polsteraufklopfen angesagt. Als sei die Wand zu Nachbars weggezogen worden, so nah wirkt die Wohnzimmer-Kulisse im Studio Adlershof. Welch eine Differenz zu Jauchs halb runder, zum Publikum hingewandter Sesselparade. Bei Will sitzen sich die Diskutanten gegenüber, nur die Moderatorin schaut direkt ins Studiopublikum. Die Gäste sollen sich aufeinander beziehen und nicht Richtung Galerie sprechen.

Anne Will sagt höflich „Guten Abend“, es folgen 60 zumeist höfliche Minuten Talk in Zimmerlautstärke. Nicht, dass die Runden nicht möglichst konträr und möglichst die kontroversen Positionen zum Thema der Woche abdeckend besetzt wären, stets soll das Thema der Woche auf der Agenda stehen. Und wenn es der x-te Talk zur Flüchtlingskrise war, dann war es der x-te Talk dazu. Diese Talkshow wollte und will nie ausbrechen, sie bewegt sich im allfälligen Themenkreis – und damit eben auch im Kreis. Es findet eine Rundum-Erörterung statt. Sich an „Anne Will“-Sendungen zu erinnern, faktisch wie anekdotisch, ist schwierig. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel als Sologast löste kein Momentum aus.

Es geht nicht direkt in die Schmerzreflexzonen hinein

„Anne Will“ bietet Mittelschichtsfernsehen, bürgerlich geprägten Talk, das Rüberlappen zur Elitenrunde ist einkalkuliert. Als die Putzfrau und gleichzeitige DGB-Funktionärin Susanne Neumann die Gerechtigkeitsfrage bei der Rente ad personam aufwarf, da wirkte Anne Will hilflos, freundlich, bemüht und diskutierte lieber mit DIW-Präsident Marcel Fratzscher zum Thema. Das „Volk“ im Gesprächskreis macht nicht nur Anne Will stumm.

Politische Positionen sollen preisgegeben, behauptet und verdeutlicht werden, es geht nicht direkt in die Schmerzreflexzonen hinein. Diese politische ARD-Talkshow lebt von dem schönen Grundgedanken, dass ein Gespräch auch dann noch möglich ist, wenn es längst schon sinnlos geworden ist. In Anne Will stecken die Grundprinzipien politischen Handelns von Hans-Dietrich Genscher bis Frank-Walter Steinmeier: Der Dialog an sich ist wichtig und wertvoll.

Und integrativ ist der Talk am Sonntagabend im Ersten auch gemeint. Als Beatrix von Storch oder Frauke Petry, die AfD-Vorbeterinnnen, zu Gast waren, dann war schon mal Bewegung im Raum, die Stimmen waren erhoben, von irgendwelchen Eklats waren die Ausgaben weit entfernt. Sofern das eine Tugend ist, dann bekräftigt „Anne Will“ diese Tugend. Und der Tugendbeweis des kritischen Journalismus. Der ist das Rüst- und Handwerkszeug der stets bestens präparierten Moderatorin.

Die Aufregungen da draußen in der Republik

Anne Will, das Thema stets im Blick und im Griff, lässt vielleicht mal die ordnende Hand vermissen. Die Aufregung ist gedämpft, die Aufregungen da draußen in der Republik wirken domestiziert. Die Benimmfrage schwebt unausgesprochen über der Runde. Mag auch an den Gästen liegen: Dem Bedeutungsverlust des Fernsehformats Talk – von „Anne Will“ über „Hart aber fair“ bis hin zu „Maybrit Illner“ – ist eingeschrieben, dass die Politik, als die Redaktionen den Anteil der Politiker an den Gesprächsrunden zurückgeschraubt haben, diese Vorgehensweise verstärkt hat.

Nichts gegen die Role Models Armin Laschet (CDU) und Thomas Oppermann (SPD), doch steckt in diesen Vorzugsgästen mehr die Außenwirkung als das Mark ihrer Parteien. Die Talkrunden sind „bunter“ geworden, repräsentativer auch, interessanter geworden sind sie nicht.

Bei „Günther Jauch“ konnte es passieren, dass der Regen auf dem Gasometer-Dach seine Begleitmelodie spielte, bei „Anne Will“ kann das nicht passieren. Ein Talk im Studio-Kokon, abgeschirmt, heruntergedimmt, fest verpackt. „Anne Will“ ist die Antithese zum Hass-Kommentar, zu den Flagellanten des Netzes. Sie sieht und sie muss keinen Grund sehen, einer hysterisierten wie emotionalisierten Gesellschaft Zucker zu geben. Wahrscheinlich ist „Anne Will“ ihrer Zeit voraus ...

Mehr Überraschung, mehr das Zuschauergefühl kitzeln

Die Moderatorin setzt unverändert auf die Kraft des gesprochenen Wortes und auf die Wirkkraft des überzeugenden Arguments. Das ist sympathisch, das ist notwendig im dialogischen Fernsehgespräch; und es ist ein bisschen mutig im quotenfixierten Lautsprecher-Medium Fernsehen.

Tatsächlich holt „Anne Will“ (noch?) nicht die Quoten, wie sie „Günther Jauch“ geholt hat. Der hatte in seinem letzten ersten Halbjahr 2015 knapp 4,43 Millionen Zuschauer im Schnitt, Seine Nachfolgerin erreichte seit Januar 4,10 Millionen. (Marktanteile: 15,8 Jauch zu 14,2 Prozent Will).

Was Anne Will anders machen soll? Lauter werden, zuspitzen, schon mit der Gästeauswahl der Schweißbildung auf der Stirn das Wort reden lassen? Nein, das muss sie nicht. Was dagegen angebracht wäre: Mehr Überraschung, mehr das Zuschauergefühl kitzeln, nicht zu wissen, was da ab 21 Uhr 45 im Ersten auf ihn zukommt, prägnanter die Blaupause unterdrücken.

Blaupause heißt, dass Will und ihre Redaktion jede Ausgabe quasi vor Ausstrahlung durchgeprobt zu haben scheint. Die Einspielfilme nicht nur als Hintergrund, Zitat und Erklärung, sondern als Sendeblitze aufladen. Das Ende der Erwartung, dass das Erwartete pflichtschuldigst kommt. Weniger Talk-Liturgie, mehr Rock ’n’ Roll.

Mit der heutigen Sendung geht „Anne Will“ in eine sehr lange Sommerpause: Fußball-EM, Sommer-Olympia, da wird das Erste zur Talkwüste. Das ist schlimm, nicht sehr schlimm, da kann sich jeder seine eigenen Gedanken machen und muss nicht bis Sonntag warten, bis „Anne Will“ ihm welche vormacht.

„Anne Will“, ARD, Sonntag, 21 Uhr 45

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