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Medien: Zeitgeschichtszipfel

DAS SPIEL IST AUS! Es dauert nicht lange, und die Aura Günter Netzers hat sich vollkommen aufgelöst.

DAS SPIEL IST AUS!

Es dauert nicht lange, und die Aura Günter Netzers hat sich vollkommen aufgelöst. Was früher für ein paar dürre Halbzeitworte noch langte, das reicht für den Ernstfall einer WM nicht mehr. Da werden etliche Stunden kostbarer Sendezeit mit dem unendlichen Drumherum ausgefüllt, mit quälenden Studiosessions, Berichten aus dem deutschen Hotel und der unerbittlichen Duzmaschine Waldi. Und dann noch das über viel zu viele Zeitstrecken gehetzte Gespann Netzer/Delling: plötzlich merkt man, dass Netzer so viel nun nicht zu sagen hat. Sein Gestus wirkt zwar professoraler als der seiner „Experten"-Kollegen, er scheint damit weiter zu kommen als der ewige Lausbub Klinsmann oder der staatsmännelnde Mittelfranke Matthäus, aber mehr als eine gähnende Leere bleibt nicht zurück. Vielleicht ist er sogar schlimmer, weil er nicht einmal zur Comicfigur taugt.

Wie viel Zeit sinnlos totgeschlagen wird bei dieser Fußballweltmeisterschaft. ist schon eine gigantische Medienleistung. Würde man stattdessen eine hochexklusive einstündige Literatursendung für eine avancierte Minderheit ausstrahlen, wäre auch nicht mehr verloren, aber man könnte wenigstens ein gutes Gewissen haben. Und wenn dann tatsächlich eine reale Achtelfinalbegegnung stattfindet, wie Mexiko gegen USA, dann bleibt der Bildschirm bei ARD und ZDF davon unbehelligt, weil sie nur im Kirchschen Bezahlfernsehen gesendet wird– eine Farce der New Economy.

Im Radio hatte man dagegen plötzlich das Gefühl, an etwas ungeheuer Wichtigem und Spannungsreichem teilzuhaben. Selbst der Reporter Rieck, den außer seiner markanten Macho-Stimme wenig qualifiziert, wurde hörbar vom Live-Erlebnis getragen. Die Radikallösung wäre: Hört ganz auf mit dem Fernsehen und sendet die Spiele nur im Radio – das hätte viel mehr Verve als die meisten Paarungen selbst. Und jeder hätte das Gefühl, endlich mal einen wirklich bedeutsamen Zipfel der Zeitgeschichte erwischt zu haben. Helmut Böttiger

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